
-Auf die Schnelle-
Die Gabe von Psychopharmaka hängt von organisations- und team-bedingten Faktoren ab
Obwohl antipsychotische Medikamente im Einsatz gegen herausforderndes Verhalten wenig Wirkung zeigen und alle Leitlinien angesichts riskanter Nebenwirkungen nicht-pharmakologische Möglichkeiten empfehlen, erhalten etwa 50% aller Heimbewohner mit Demenz weiterhin eben diese Medikamente. Bekannt ist, dass diese Medikamente in über 80% der Fälle abgesetzt werden können, ohne dass das herausfordernde Verhalten wiederkommt. Immerhin: das Absetzen der Medikamente erweist sich bei einigen Klienten als nicht erfolgreich mit der Folge, dass sie wieder angesetzt werden. Vorliegende australische Studie geht den Umständen und Gründen gescheiterter Absetzversuche nach.
Methoden:
Es handelt sich um eine Teilstudie im Rahmen einer groß angelegten Untersuchung zum Absetzen von Psychopharmaka bei Heimbewohnern mit Demenz in Australien. (Halting Antipsychotic Use in Long-Term care= HALT) Im Rahmen dieser Untersuchung wurden Psychopharmaka in einem schrittweisen, individualisierten Verfahren abgesetzt und Pflegende geschult. Besonders geschulte Pflegekräfte (‚champions‘) erhielten den Auftrag, ihre Teams bei den Absetzversuchen zu begleiten und nicht-pharmakologische Möglichkeiten zu versuchen. Vorliegende Teilstudie untersucht Fallsituationen, bei denen dieses Programm nicht griff. Zur Erfassung wurde ein Fragebogen entwickelt, den die ‚champions‘ und Hausärzte ausfüllten. Besonders interessierte die Wissenschaftler, von wem und warum die Neuverschreibung angeregt wurde, welche Funktionsebenen vor und nach der Verschreibung betroffen waren bzw. sich verändert haben und wie sie den Prozess persönlich beurteilen.
Resultate:
39 von ursprünglich 133 Personen behielten ihre Medikation bei oder erhielten eine Neuverschreibung von Psychopharmaka. Signifikante Unterschiede zwischen Personen, deren Medikamente abgesetzt werden konnten und denen, wo dies nicht gelang, ließen sich nicht in Bezug auf Diagnostik, Alter, Funktionalität, Art, Häufigkeit und Schwere herausfordernden Verhaltens, wohl aber auf Geschlecht feststellen:
Das Absetzen gelang bei Frauen besser als bei Männern. In der Regel ging die Anregung für Neuverschreibungen von Pflegenden aus (65,8%), gefolgt von Betreuern (39,5%) und Hausärzten (23,7%) – Mehrfachnennungen möglich. Hauptgründe für die Verschreibung bildeten weiterhin bestehende oder neu auftretende Agitiertheit und Aggression. Andere Gründe (z.B. Umherlaufen, Apathie, abweichende Motorik) wurden nur je einmal genannt. Nach dem Absetzen reagierten die meisten Bewohner mit höherer Wachheit und einem höheren Interaktionsbedürfnis, einige aber eben auch mit Aggression, Irritierbarkeit und (im geringen Umfang) höherer Ängstlichkeit.
Auffällig: Für die 39 Personen, die Neuverschreibungen erhielten, konnte in der Zeit des Entzugs anhand von objektiven Assessments keine signifikante Steigerung von herausforderndem Verhalten oder Agitiertheit in Häufigkeit oder Schwere festgestellt werden.
Besagte ‚champions‘ äußerten, dass sie in 9 Fällen erhebliche und in weiteren drei Fällen begründete Zweifel an der Medikation hegten. Bei 12 Heimbewohnern äußerten sich die Betreuer zufrieden mit der Neuverschreibung und in weiteren 6 Fällen bekundeten die Betreuer, dass die Nebenwirkungen bedauerlich seien, insgesamt aber nicht auf die Medikation verzichtet werden könnte.
Diskussion:
Die Ergebnisse der Studie decken sich mit bestehenden Erkenntnissen, dass Pflegende die Gabe von Psychopharmaka in die Wege leiten. Nicht-pharmakologische Möglichkeiten lassen sich häufig schlecht einführen, organisationale Faktoren, insbesondere der Mangel an Pflegekräften, wird dafür verantwortlich gemacht. Ärzte spielen hierbei eine eher hilflose, flankierende Rolle. Betreuer schließen sich zumeist dem Urteil der Pflegenden an. Die ‚champions‘ beobachteten bei ihren Kollegen häufig Skepsis und Unwillen, Psychopharmaka abzusetzen und nicht-pharmakologische Möglichkeiten zu versuchen – obwohl die ‚champions‘ selbst dies für möglich und erforderlich hielten. Organisationale und team-bezogene Faktoren sind wohl entscheidend in Bezug auf die Frage, ob Psychopharmaka abgesetzt werden können. Die ‚champions‘ in einer eher beratenden Rolle hatten nicht die Möglichkeit, in diese Vorgänge nachhaltig einzugreifen.
Weniger die objektive Zunahme herausfordernden Verhaltens als die Wahrnehmung dieses Verhaltens durch Pflegende (‚Stress‘) scheint die Verschreibungen anzutreiben. Erhöhte Irritierbarkeit (z.B. beständiges Fragen) und Vokalisieren/Lautieren spielt dabei eine möglicherweise entscheidende Rolle. Hierbei werden betroffene Männer als riskanter, gefährlicher eingestuft als Frauen. Schulungen der Pflegenden und der verschreibenden Ärzte wirken sich in diesen Fällen nicht reduzierend aus.
Quelle:
Aerts, L., Cations, M., Brodaty, H., et al. (2019). Why prescribing antipsychotics in older people with dementia in long-term care is not always successful: Insights from the HALT study. International Journal of Geriatric Psychiatry, 34, 1572-1581
Haben Sie Fragen oder Anmerkungen?
Nutzen Sie gerne die Kommentarfunktion oder melden Sie sich direkt bei uns!
3 Antworten
Mich würde als Forschungsfrage interessieren: hat der hohe Anteil von Frauen in Pflegeberufen einen signifikanten Einfluss auf die subjektive Wahrnehmung? Spielen traditionelle Rollenbilder und Zuschreibungen zu Geschlechtern und/ oder Gewalterfahrungen in den Biografien weiblicher Pflegekräfte eine Rolle?
Sehr geehrte Frau Jurgschat-Geer
Danke für Ihre Anfrage und Anregung. Ich halte diesen Zusammenhang durchaus für relevant. Interessant wäre es zu fragen, ob sich männliche und weibliche professionell Pflegende bei Fragen im Einsatz von Psychopharmaka unterschiedlich positionieren. Und weiterhin, ob Gewalterfahrungen etc. unterschiedlicher Art hierbei eine Rolle spielen. Junge Frauen erleben im Kontakt mit alten Männern mit Demenz häufig sexualisierende Übergriffe, die sie regelrecht traumatisieren können.
Zumindest könnte dies einen Teilaspekt der Erklärung bilden. Insgesamt greifen Männer in Krisensituationen auf eher selbstbehauptende, aggressivere Kompensationen zurück als Frauen, neigen eher zu paranoiden Ideationen (also externalisieren innere Konflikte in äußere), erleben im höheren Alter eher einen distanzierend-schizoiden, also abwehrenden Bindungsstil. (siehe die Arbeiten von Meinolf Peters zu Veränderungen der Persönlichkeit) Zudem ist die Demenz bei Männern von höheren vaskulären Anteilen geprägt, oft mit einer eher abwehrend-anklagenden depressiven Ausprägung. Viele Männer werden in der Pflege eher als ’schwierig’ erlebt und tauchen vermehrt in Fallbesprechungen auf.
Insgesamt sind weibliche Pflegende dem Verhalten dieser alten Männer mit Demenz oft rückzugslos ausgesetzt, aus professionellen Gründen kann man nur bedingt entfliehen (und pflegende Männer sind nicht immer greifbar). Zudem muss man dann doch jeden Tag wieder dorthin ohne dass man sich ausreichend geschützt weiß. Dies ist insbesondere in der Nachtwache ein Riesenproblem. Da kann man schon begründet an eine traumatisierende Situation denken. Daher ist die Präferenz für Sedierung gut nachvollziehbar, besonders unter den Bedingungen von Personalmangel und Ressourcenknappheit. – Also insgesamt- ja, das wäre eine spannende Forschungsfrage, danke schön!
Mit freundlichen Grüßen,
Christian Müller-Hergl
Guten Morgen Herr Müller-Hergl
Vielen Dank für Ihre Antwort und die ergänzenden Informationen.
Ich denke gar nicht mal so sehr an Traumatisierungen durch professionelle Pflegebeziehungen. Ich frage mich vielmehr, welchen Einfluss häusliche Gewalt, Missbrauchserfahrungen und Diskriminierungen im persönlichen Leben der weiblichen Pflegekräfte auf grundlegende Einstellungen und Wahrnehmungen dieser gegenüber männlichen Patienten haben. Also eher, ob bestimmte Verhaltensweisen pflegebedürftiger Männer bei weiblichen Pflegekräften negative persönliche Erinnerungen und Erfahrungen auslösen …
Mit freundlichen Grüßen
Heike Jurgschat-Geer