
Hintergrund
Aufgrund des im deutschen Gesundheitssystems geltenden Prinzips ambulant vor stationär stellt die ambulante Pflege einen zentralen Baustein bei der Versorgung pflegebedürftiger Menschen dar. Durch den demografischen Wandel und die Leistungsausweitung basierend auf dem Pflegeneuausrichtungsgesetz steigt die Nachfrage pflegerischer Unterstützung. Zwischen 1999 und 2019 stieg die Anzahl der zusammen mit oder ausschließlich durch ambulante Pflegedienste versorgten pflegebedürftigen Menschen um rund 567.000 Personen [1,2]. Auch wenn im gleichen Zeitraum die Anzahl der Pflegedienste und auch die Beschäftigtenzahlen ein Wachstum erfuhren [1,2], so kam es durch den vergleichsweise schneller steigenden Bedarf an ambulanter Pflege zu einer Verknappung des Personals. Laut einer Hochrechnung des Zentrums für Qualität in der Pflege basierend auf einer Befragung von Pflegedienstleitungen, sind etwa 16.000 Stellen für Pflegefachpersonen seit mindestens 3 Monaten unbesetzt [3]. Gleichzeitig haben Beschäftigte in der Altenpflege mit durchschnittlich 24,1 Arbeitsunfähigkeits(AU)-Tagen acht AU-Tage pro Jahr mehr als der Durchschnitt aller Beschäftigten insgesamt (16,1 AU-Tage je Beschäftigten) [4]. Diese Faktoren führen dazu, dass die Nachfrage pflegerischer Versorgungsleistungen nicht mehr ausreichend gedeckt werden kann, Pflegedienste keine weiteren Haushalte mehr aufnehmen können oder bestehende Versorgungsverträge kündigen müssen. Eine Befragung von Pflegediensten (n=535) bestätigt diese Entwicklung. Demnach äußern 80% der Dienste, in den letzten 3 Monaten Anfragen abgelehnt zu haben, weil sie die Versorgung nicht hätten sicherstellen können, 13% geben an, im gleichen Zeitraum Klient*innen gekündigt zu haben [3]. Aufgrund des steigenden Bedarfs interdisziplinärer, sektorenübergreifender Dienstleistungen im Zusammenhang mit einer hohen Komplexität der Zusammenarbeit tritt eine ganzheitliche Versorgung pflegebedürftiger Menschen in den Hintergrund und Demotivation auf Seiten der Pflegenden und Unzufriedenheit der Pflegebedürftigen nehmen zu. Diese Situation wurde von Pflegediensten in Deutschland zum Anlass genommen, das aus den Niederlanden stammende Arbeits- und Organisationsmodell „Buurtzorg“ für die ambulante Pflege zu erproben.
Der Buurtzorg-Ansatz
In den Niederlanden gründete der Krankenpfleger Jos de Blok 2006 aufgrund der dort steigenden Unzufriedenheit Pflegender und einer zunehmenden Fragmentierung von Pflegeleistungen mit dem Fokus einer effizienten Leistungsorientierung die gemeinnützige Organisation „buurtzorg“. In der Übersetzung heißt „buurtzorg“ so viel wie Nachbarschaftshilfe und beinhaltet ein Organisationsmodell, in dem Pflegende in selbstorganisierten Teams Pflegebedürftige in der Häuslichkeit versorgen. Unterstützt werden sie dabei durch eine Infrastruktur, die gekennzeichnet ist von neuen Technologien und einem geringeren administrativen Overhead [5]. Die zentralen Prinzipien des patientenzentrierten Modells bestehen aus Selbstmanagement, Kontinuität, Aufbau vertrauensvoller Beziehungen und der Entwicklung von Netzwerken in der Nachbarschaft. Insgesamt kann die Arbeit in den buurtzorg-Teams wie folgt zusammengefasst werden: „buurtzorg-Teams betreuen Patient*innen, die häusliche […] Pflege benötigen, und arbeiten mit der Familie, den Primärversorgern und den Ressourcen der Gemeinde zusammen, um den Patient*innen zu helfen, ihre Unabhängigkeit in der am wenigsten einschränkenden Umgebung zu erhalten“ [5, S. 55, Übersetzung]. Mit dem Ziel ein größtmögliches Maß an Selbstversorgung wieder zu erlangen, orientiert sich diese integrale Sichtweise an den Bedarfen der Pflegebedürftigen und weniger an einzelnen Aufgaben [6]. Durch die Nutzung von Ressourcen aus der Nachbarschaft wird das Netzwerk um den pflegebedürftigen Menschen gestärkt [7]. Die buurtzorg-Teams bestehen aus etwa 10 bis 12 Pflegenden und versorgen 50 bis 60 pflegebedürftige Menschen [5]. Dabei werden sie durch Coaches und einem Backoffice unterstützt. In den Niederlanden ist buurtzorg seit der Gründung enorm gewachsen. Beginnend mit einem Team von vier Pflegenden, beschäftigt buurtzorg nach eigenen Aussagen aktuell über 10.000 Pflegende und Assistent*innen in 850 selbstorganisierten Teams [8]. Auch in anderen Ländern wird der buurtzorg-Ansatz in unterschiedlichen Formen umgesetzt. Dazu gehören China, Schweden, UK, USA, Japan, Deutschland, Indien, Taiwan, Österreich und Russland [8]. In Deutschland hat sich in den letzten Jahren die buurtzorg Deutschland Nachbarschaftspflege gGmbH gegründet und umfasst dabei dreizehn Pflegeteams und eine ambulante Pflege-WG, die nach dem Modell tätig sind [9].
Das Evaluationsprojekt
Das Ziel des Projektes besteht in der Gewinnung von Erkenntnissen darüber, inwieweit das Arbeits- und Organisationsmodell „buurtzorg“ unter den Rahmenbedingungen in Deutschland auf das System der ambulanten Pflege übertragbar ist. Die Ergebnisse sollen eine Grundlage bilden, einen Weg zur Weiterentwicklung der ambulanten Pflege aufzuzeigen und einen Beitrag zur zukunftsfähigen Gestaltung dieses Sektors zu leisten. Bei der Evaluation werden drei Ebenen (Leistungsempfänger*innen, Leistungserbringer*innen und Rahmenbedingungen) betrachtet.
Da ein klassischer Vorher-Nachher-Vergleich aufgrund der bereits bestehenden Pflegedienste nicht möglich ist, wird auf Ebene der Leistungsempfänger*innen (Pflegebedürftige und pflegende Angehörige) für jeden Pflegebedürftigen im buurtzorg-Modell ein pflegebedürftiger „Zwilling“ gesucht, der von einem klassischen Pflegedienst versorgt wird. Für das Matching dienen die Variablen Geschlecht, Alter, Pflegegrad, eingeschränkte Alltagskompetenz, Dauer der Pflegebedürftigkeit, Alleinlebend, gesetzlicher Betreuer, in Anspruch genommene pflegerische Leistungen und Sozialraum sowie Lebenswelt. Im Rahmen von Hausbesuchen werden qualitative Interviews mit den Teilnehmenden und eine Einschätzung der Versorgungsqualität in Anlehnung an die laufenden Entwicklungsarbeiten zur Qualitätsprüfungen für die ambulante Pflege nach §§ 114 ff. SGB XI durchgeführt. Um Hinweise auf die tatsächliche Belastungssituation im häuslichen Umfeld zu erhalten, wird eine Erhebung mittels der „Häuslichen-Pflege-Skala“ (HPS) [10] ergänzt.
Auf der Ebene der Leistungserbringer*innen werden mit Hilfe von arbeitswissenschaftlichen Instrumenten Erkenntnisse über die Arbeitsfähigkeit, -zufriedenheit und –belastung der Pflegenden gewonnen. Zusätzlich werden qualitative Interviews mit Pflegenden der buurtzorg-Pflegedienste geführt, um weitere Informationen zur Übertragbarkeit des Ansatzes zu erhalten.
Die Ebene der Rahmenbedingungen wird betrachtet, um durch eine Erhebung Erkenntnisse unter anderem über die Kund*innenstruktur sowie Informationen über das Personal (z.B. Qualifikation, vertraglich vereinbarte Arbeitszeit, Fortbildungen) zu gewinnen.
Das Evaluationsprojekt wird im Auftrag des GKV-Spitzenverbandes, unter der Leitung des Netzwerks Gesundheitswirtschaft Münsterland e.V. aktuell an der Hochschule Osnabrück und der FH Münster seit Januar 2020 durchgeführt.
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Eva Maria Gruber, M.Sc.
Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Telefon: 0541 969 – 3796
E-Mail: eva.gruber@hs-osnabrueck.de
Quellen
- Statistisches Bundesamt (2001): 4. Kurzbericht: Pflegestatistik 1999. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung – Ländervergleich: ambulante Pflegedienste. Zweigstelle Bonn. Verfügbar unter https://www.statistischebibliothek.de/mir/servlets/MCRFileNodeServlet/DEHeft_derivate_00012311/5224101999004.pdf [20.05.2021].
- Statistisches Bundesamt (2020): Pflegestatistik. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Ländervergleich – Ambulante Pflege- und Betreuungsdienste. Verfügbar unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Publikationen/Downloads-Pflege/laender-ambulante-pflegedienste-5224101199004.pdf?__blob=publicationFile [20.05.2021].
- Zentrum für Qualität in der Pflege (2019). Fachpersonenmangel in der ambulanten Pflege: Ergebnisse einer ZQP-Befragung, September 2019. Verfügbar unter https://www.zqp.de/wp-content/uploads/ZQP-Kurzbericht-Personalmagel-Ambulant.pdf
- Kliner, K.; Rennert, D.; Richter, M. (2017) [Hrsg.]: Gesundheit und Arbeit – Blickpunkt Gesundheitswesen. BKK Gesundheitsatlas. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft und BKK Dachverband e.V.. Verfügbar unter: https://www.bkk-dachverband.de/fileadmin/Artikelsystem/Publikationen/2019/BKK_Gesundheitsatlas_2017.pdf
- Monsen, Karen; Blok, Jos de (2013): buurtzorg Nederland – A nurse-led model of care has revolutionized home care in the Netherlands.; in: The American journal of nursing, Jg. 113, H. 8, S. 55–59
- Nandram, Sharda S. (2015): The buurtzorg case and illustrations of Zorgaccent and Amstelring; in: Amity Global Business Review, Jg. 10, S. 56–63
- Gray, Bradford; Sarnak, Dana o.; Burgers, Jako (2015): Home Care by Self-Governing Nursing Teams: The Netherlands‘ buurtzorg Model. Verfügbar unter: https://www.commonwealthfund.org/sites/default/files/documents/___media_files_publications_case_study_2015_may_1818_gray_home_care_nursing_teams_buurtzorg_model_case_study.pdf
- buurtzorg Nederland (2021): About us. Verfügbar unter: https://www.buurtzorg.com/about-us/
- Buurtzorg Deutschland Nachbarschaftspflege gGmbH (2021): Über uns. Verfügbar unter: https://www.buurtzorg-deutschland.de/
- Gräßel, Elmar; Leutbecher, Marlene (2001): Häusliche Pflege-Skala HPS zur Erfassung der Belastung bei betreuenden oder pflegenden Personen. Hogrefe, Göttingen