
Detlef Rüsing im Gespräch mit Nils Hensel
Dieses Interview führte Detlef Rüsing mit Nils Hensel für die Pflege-Zeitschrift „pflegen:Demenz“ im Jahr 2020. (1)
Können Social Media-Kanäle einen Erfahrungs- und Wissensaustausch zwischen pflegenden Angehörigen und Expertinnen und Experten aus Theorie und Praxis ermöglichen? Wie weit sollten professionell Pflegende diesen Informationsaustausch für pflegende Angehörige empfehlen und kann er aktiv für die soziale Teilhabe pflegebedürftiger Menschen genutzt werden? In einem Interview gehen Detlef Rüsing und Nils Hensel vom Dialogzentrum Leben im Alter (DZLA) auf die Möglichkeiten sowie Gefahrenquellen von Social Media-Kanälen und die Arbeit des Dialogzentrums ein.
Detlef Rüsing: Herr Hensel, Sie sind Kommunikations- und Medienwissenschaftler und arbeiten im Dialogzentrum Leben im Alter (DZLA). Das Zentrum gibt Erkenntnisse aus der gerontopsychiatrischen Versorgung über Social Media-Kanäle an Interessierte weiter. Können Sie einmal kurz die Arbeit des Zentrums im Allgemeinen und Ihre Medienarbeit im Besonderen beschreiben?
Nils Hensel: Das DZLA beschäftigt sich mit dem Wissenstransfer, also einem Austausch von Wissen und einem Dialog von Pflegenden in der Praxis, aber auch pflegenden Angehörigen sowie Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftlern. Das Ziel des Netzwerkes ist es, Informationen zu Erkrankungen und Erfahrungen aus der gerontopsychiatrischen Pflege zu teilen und darüber hinaus ein Netzwerk von Expertinnen und Experten aus der Theorie und Praxis entstehen zu lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, nutzen wir klassische E-Mail-Newsletter, Social Media-Kanäle und einen Podcast. Im Mittelpunkt steht ein Blog, auf dem alle Informationen und Diskussionen zusammengefasst werden. Wir erstellen dort in Teamarbeit Text-, Bild- und Videobeiträge zu unterschiedlichen Pflegethemen.
Rüsing: Sie nutzen also Social Media-Kanäle, um gerontopsychiatrisches Wissen zu verbreiten und zur Diskussion anzuregen. Welche Social Media-Kanäle eignen sich in Ihren Augen besonders für die Arbeit des Wissenstransfers? Welche sind die meistgenutzten Kanäle, und welche Personengruppe nutzt sie, um mit ihnen Wissen und Meinungen zu verbreiten?
Hensel: Social Media-Kanäle eignen sich für den Wissenstransfer, da jeder Kanal eine andere Personengruppe erreicht.
Facebook wächst in letzter Zeit hauptsächlich bei den „Silver Surfern“, also den Nutzerinnen und Nutzern ab 60 Jahren. (2) Auf Facebook finden Diskussionen hauptsächlich in Gruppen statt, d. h. Interessierte finden durch ein Thema, z. B. „Selbsthilfe“, zusammen. Administratoren verwalten die jeweiligen Gruppen. Voraussetzung einer Teilnahme an Diskussionen und Gruppen ist die Registrierung mit einer E-Mail-Adresse. Mit einer Facebook-Mitgliedschaft können Kommentare, Gruppen, Organisationen und Produkte mit „Likes“ über einen „Like-Button“ (Gefällt-mir-Taste) bewertet oder kommentiert werden.
Twitter wiederum wächst vor allem bei Nutzerinnen und Nutzern zwischen 19 und 55 Jahren, die vorwiegend mobile Endgeräte wie Smartphones und Tablets nutzen und sich hier über kurze Beiträge – „Tweets“ – direkt austauschen. Das Limit dafür wurde auf 280 Zeichen erweitert. Neben der Möglichkeit, Beiträge zu kommentieren und zu bewerten, können Themen und Stichwörter mit einem „#“ (Hashtag) markiert werden. Hieraus ergeben sich je nach Diskussionslage besonders häufig genutzte Wörter, sogenannte „Trends“, z. B.: #demenz oder #selbsthilfe. Profile und eigene Seiten können auf der Plattform leicht erstellt werden, das gesamte Netzwerk ist auch für nicht registrierte Nutzerinnen und Nutzer sichtbar.
Die zweitgrößte soziale Plattform der Welt ist YouTube. Gegründet 2005, übernahm Google die Videoplattform 2006. Um ein eigenes Profil oder einen YouTube-Kanal zu erstellen, benötigen die Nutzerinnen und Nutzer ein eigenes Google-Profil. Jeder Videobeitrag auf YouTube kann von anderen Google-Nutzerinnen und Nutzern bewertet und geteilt werden. Der Videoproduzent entscheidet, ob seine Beiträge kommentiert werden dürfen und eine Diskussion stattfindet.
Rüsing: Wechseln wir einmal die Perspektive. Nehmen wir an, ich sei ein Angehöriger einer Person mit Demenz oder ein beruflich Pflegender und ich würde Informationen zu herausfordernden Verhaltensweisen suchen, wie Aggressivität oder ständiger Unruhe des Menschen mit Demenz. Wie sollte ich als Pflegeperson oder auch als Angehöriger bei meiner Suche nach Empfehlungen und Erfahrungen vorgehen.
Hensel: Einen Themenüberblick kann man sich schnell durch eine YouTube-Suche verschaffen. Auch aktuelle Forschungsergebnisse finden sich darüber. Gemeinsam mit Christian Müller-Hergl habe ich mehrere Videos zum Thema „Herausforderndes Verhalten bei Demenzerkrankten“, auch BPSD (Behavioural and psychological symptoms of dementia) genannt, produziert. (3)
Über die Suche auf YouTube lassen sich weitere interessante Videos zum Thema Pflege finden. So teilen z.B. Hochschule, Institute oder Ministerien Informationen über eigene YouTube-Kanäle.
Rüsing: Es gibt Unmengen an Informationen auf den genannten Plattformen. Ist es für die Nutzerin oder den Nutzer überhaupt möglich, gute und richtige Informationen zu unterscheiden? Worauf sollten Nutzerinnen und Nutzer achten? Neben den großen Online-Plattformen gibt es ja auch noch sogenannte Messenger-Dienste. Können diese hilfreich sein und muss man dort etwas beachten?
Hensel: Über Messenger-Dienste und andere soziale Netzwerke können einfach und unkompliziert Nachrichten verfasst und verschickt werden. Durch sie verbreiten sich aber auch viele Falschinformationen. Das Problem: Meldungen werden oft ungeprüft in einem Kettenbriefsystem weiter verbreitet. Je emotionaler eine Meldung ist, umso häufiger wird sie verschickt. Auch angebliche wissenschaftliche Beweise sollten hinterfragt werden. Häufig werden vorläufige Studien zitiert, verzerrt oder verkürzt dargestellt. Oft werden anonyme Quellen oder keine Quellen genannt. Auch der Name des Autors sollte überprüft werden, Falschmeldungen werden häufig über fiktive Namen verbreitet. Gesendete Bilder können mit einer umgekehrten Bildersuche überprüft werden, um Täuschungsversuche aufzudecken.
Rüsing: Die genannten Social Media Kanäle sind interaktiv, das heißt, ich als Nutzerin oder Nutzer kann Inhalte kommentieren, Fragen stellen und mit anderen diskutieren. Wie sehen sie als Kommunikationswissenschaftler: Unterscheiden sich Diskussionen und Gespräche über Internetkanäle von solchen, die in einem Raum oder Saal mit physischer Präsens stattfinden? Können diese die gleiche Qualität haben?
Hensel: Der Austausch über digitale Kanäle ist Chance und Fluch zugleich. Die Diskussionen mit physischer Präsenz sind nach meiner Erfahrung für das Verständnis für andere Meinungen und Argumente sehr wertvoll und nicht vollständig durch digitale Kanäle ersetzbar.
Ideal ist eine Ergänzung von Tagungen und anderen Veranstaltungen mit Social Media Kanälen: Sie können die Voraussetzung für mehr soziale Teilhabe schaffen. Davon können vor allem pflegende Angehörige und pflegebedürftige Personen profitieren. Ich hoffe, dass die Chancen des digitalen Austausches für mehr Menschen zugänglich gemacht wird. Außerdem sind immer mehr Organisationen auf Facebook, Twitter und Co. vertreten.
Rüsing: Wir wissen, dass es viele Angehörige von Demenzerkrankten gibt, die im Laufe der oft langjährigen Pflegebeziehung ein enormes Erfahrungswissen erworben haben. Und von diesem Wissen könnten alle – Praktikerinnen und Praktiker, sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – enorm profitieren. Was schlafen Sie vor, Herr Hensel? Was wären gute Wege für erfahrene pflegende Angehörige, ihr angehäuftes Wissen mithilfe des Internets zu teilen, wenn Sie dies gerne möchten?
Hensel: Eine Vernetzung ist der Schlüssel für einen Austausch auf Augenhöhe, dafür sollten sich betroffene Menschen noch stärker über Vereine und Selbsthilfe-Initiativen vernetzen. Gemeinsam fällt es leichter, Text-, Video- und Audiobeiträge zu produzieren. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tragen aus meiner Sicht die Verantwortung, ihre Erkenntnisse auch für Laien verständlich weiterzugeben. Ein positives Beispiel ist der Boom von wissenschaftlichen Podcast-Angeboten in der Corona-Krise.
Rüsing: Viele von uns nutzen mehrere Stunden am Tag das Internet. Stichwort Sicherheit: Worauf müssen wir beim Datenschutz und Urheberrechte, unbedingt achten? Wie verhält es sich beispielsweise mit dem Teilen und Nutzen von Fotos, die ich im Internet finde?
Hensel: Soziale Netzwerke werden oft von Kriminellen genutzt, um private (Bank-)Daten abzuschöpfen. Grundsätzliche sollten persönliche Angaben so sparsam wie möglich verwendet werden. Der Zugang zu den Netzwerken sollte mit einem komplexen Passwort gesichert sein. Zum Thema Urheberrechte: Nutzen Sie für ihre Beiträge keine geschützten Videos, Songs oder Bilder. Eine Alternative sind freie Datenbanken.
Rüsing: Eine abschließende Frage: Auch auf die Organisation ihrer Arbeit hat die Corona-Pandemie Einfluss. Hand aufs Herz: Was ist Ihnen lieber, eine Besprechung mit den Kolleginnen und Kollegen im Büro oder eine Online-Konferenz?
Hensel: Für mich sind Videokonferenzen gleichrangig zu Besprechungen im Büro. Die digitalen Kanäle ermöglichen für uns sogar einen häufigeren Austausch. Nur im Home-Office zu arbeiten wäre für mich aber keine Option, da ich den regelmäßigen persönlichen Austausch sehr schätze. Die Arbeitswelt wird sich durch die neuen Möglichkeiten massiv verändern. Ich hoffe, dass es langfristig mehr öffentliche Orte zum Lernen und Arbeiten, wie etwa Bibliotheken, geben wird.
Rüsing: Vielen Dank für das Gespräch.
Quellen:
(1) https://www.friedrich-verlag.de/pflegen-demenz-palliativ/organisation-management/facebook-twitter-und-co-5618 Pflege-Zeitschrift „pflegen:Demenz“, Ausgabe 56, 3. Quartal 2020
(2) https://ard-zdf-onlinestudie.de/ ARD/ZDF-Onlinestudie 2021; https://www.faktenkontor.de/studien/social-media-atlas-2022/
(3) https://www.dzla.de/bpsd-oder-nicht-bpsd/ ; https://youtu.be/vqOZaIDTbyA
Umgekehrte Bildsuche:
https://tineye.com/ TinEye is an image search and recognition company.
https://images.google.de/ Google Bildsuche
Datenschutz:
https://www.sicher-im-netz.de/soziale-netzwerke-plattformen
Freie Foto- und Videodatenbanken:
Wie sind Ihre Erfahrungen im Umgang mit sozialen Medien, auch in Hinblick auf die gerontopsychiatrische Versorgung?
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Detlef Rüsing & Nils Hensel
Dialogzentrum Leben im Alter (DZLA)
Weitere spannende Beiträge aus der Serie „Im Gespräch“ finden Sie hier: https://www.dzla.de/category/im-gespraech/