
Post vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
Es lässt sich regelmäßig, wenn aus unterschiedlichen Gründen die Belastung Pflegender ein bestimmtes Maß überschreitet und personelle Ressourcen in Einrichtungen knapp werden, ein interessantes Phänomen im Zusammenhang mit den Expertenstandards feststellen. Es treten dann Fragen danach auf, ob es denn „auch in diesen Zeiten“ notwendig sei, die Expertenstandards umzusetzen. Für solche Fragen braucht es nicht einmal eine Pandemie, so wie derzeit. Manchmal reicht bereits eine winterliche Krankheitswelle unter den Pflegenden einer Altenpflegeeinrichtung oder eine unerwartete Zahl von Neuaufnahmen in einer Universitätsklinik.
Die Umsetzung von Expertenstandards wird in der Pflegepraxis häufig mit einem Mehraufwand gleichgesetzt. Und in vielen Fällen wird sie als Zwang wahrgenommen, was zumindest mit Blick auf die Qualitätsprüfungen in der Langzeitpflege dann verständlich erscheint, wenn diese Prüfungen und der mit ihnen verbundene Prüfungsstress in Einrichtungen für viele Pflegende, aber auch für manche Einrichtungsleitungen, die einzigen Bezugspunkte zu Expertenstandards darstellen. Im Pflegealltag werden sie nämlich vermutlich weniger sichtbar sein. Denn eine gute Dekubitusprophylaxe oder ein adäquates Schmerzmanagement bleiben eine gute Dekubitusprophylaxe oder ein adäquates Schmerzmanagement, egal ob „Expertenstandard“ draufsteht oder nicht.
Aber was macht eine Dekubitusprophylaxe zu einer guten Dekubitusprophylaxe und ab wann ist die Sorge einer Pflegefachkraft um die Schmerzsituation eines Patienten oder einer Bewohnerin ein adäquates Schmerzmanagement? Expertenstandards werden als Instrumente verstanden, die den bestmöglichen Beitrag der Pflege zu bestimmten Fragen der gesundheitlichen Versorgung von Menschen aufzeigen und dabei eine individuelle, personenbezogene Perspektive berücksichtigen. Oder am Beispiel der Dekubitusprophylaxe vereinfacht gesagt: keine Pflegekraft würde davon ausgehen, dass es in einer Krisenzeit kein Dekubitusrisiko gäbe. Ihre Fachlichkeit sollte sie aber auch in einer solchen Zeit bei ihrer Entscheidung darüber unterstützen, welche Maßnahmen in welchem Umfang für den jeweiligen Patienten oder die jeweilige Bewohnerin angemessen sind und wie sie ihren Entscheidungsprozess, die Durchführung und das Ergebnis der prophylaktischen Maßnahmen dokumentiert. Diese Fachlichkeit wird durch die Inhalte der Expertenstandards unterstützt und sie werden damit zu einem Werkzeug, das „gute Pflege“ fördert.
Damit das allerdings möglich wird, braucht es nicht die papiergebundene Veröffentlichung zu einem Expertenstandard im Bücherregal des Dienstzimmers, sondern eine praxistaugliche und für jede Einrichtung passende Umsetzung seiner Inhalte. Eine solche Umsetzung kann über eine angemessene Implementierung erreicht werden. Das Ergebnis einer solchen Implementierung sollte dann nicht allein in Verfahrensanweisungen und angepassten Dokumentationsmaterialien bestehen, sondern zu einer von allen Beteiligten getragenen Entscheidung darüber führen, wie in einer Einrichtung, auf einer Station oder einem Wohnbereich gepflegt werden soll. Und sie sollte die Pflegenden in ihrer Fachlichkeit und ihrem Handeln unterstützen und stärken.
Nach einer Implementierung geht es im Pflegealltag also nicht um Expertenstandards in ihrer Funktion als Qualitätsentwicklungsinstrumente, sondern es geht um die Fachlichkeit der Pflege. Und dann wäre die Frage in Krisenzeiten oder Zeiten übermäßig hoher Belastung eben nicht, ob es denn nun notwendig sei, die Expertenstandards umzusetzen. Sondern die Frage wäre, wie weit man sich für eine bestimmte Zeit von der eigenen Fachlichkeit entfernen muss, kann oder will, weil es äußere Umstände unumgänglich erfordern. Möglicherweise wäre es dann notwendig, bestimmte Schritte im Pflegeprozess abzukürzen oder anders als gewohnt umzusetzen. Vielleicht bräuchte es nicht jeden Eintrag in der Pflegedokumentation oder vielleicht müssten Verantwortlichkeiten in den Pflegeteams eine Zeitlang anders verteilt werden.
Es sind im Pflegealltag nicht die Expertenstandards, die im Mittelpunkt stehen, sondern die Patientinnen oder die Bewohner, die einen Anspruch an eine bestmögliche Pflege haben. Die Qualität pflegerischen Handelns ergibt sich dementsprechend auch nicht aus einer korrekten Umsetzung vorgegebener Verfahren, sondern ist das Ergebnis des Pflegeprozesses zwischen Pflegenden und Patienten oder Bewohnern. Entscheidungen sollten aber auf Fachlichkeit und auf Aushandlungsprozessen beruhen, gut abgewogen sein und von allen Beteiligten getragen werden. Und sie sollten nicht davon geleitet sein, ob – wie es aktuell der Fall ist – externe Qualitätsprüfungen ausgesetzt werden. Expertenstandards können, ob mit externer Qualitätsprüfung oder ohne, immer einen Beitrag dazu leisten, Pflegende bei der bestmöglichen Pflege zu unterstützen.
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Kontakt:
Heiko Stehling, MScN