Fallvorstellungen (002)

Dialogzentrum Leben im Alter

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Der Fall (Fr. Langhard – 01/2020)

Basisbeschreibung

Fr. L ist das 4. von 5 Kindern, 3 Schwestern, ein Bruder. Ihr Vater war Lehrer an der Dorfschule. Er wird von Frau L und der noch lebenden jüngeren Schwester als dominant, autoritär und sehr gläubig beschrieben, streng gegen sich und andere. Er lobte nie und tadelte häufig, man konnte es ihm nicht recht machen. Für die Familie war er selten da: wenn er nicht in der Schule lehrte, machte er Reisen oder besuchte Bibelstunden. Im Alter von 95 Jahren suizidierte er sich, indem er aus dem Fenster sprang. Die Mutter wird als liebevolle, sich aufopfernde Frau beschrieben, die den Haushalt versorgte und gelegentlich in einem Geschäft im Dorf arbeitete, immer für alle und für alles da war. Im Alter versorgte und pflegte Frau L ihre Mutter, allerdings auf eine sehr besitzergreifende und dominierende Art und Weise, die sie mit Geschwistern und Pflegepersonal in heftige Konflikte brachte. 

Nach der Schulzeit machte Frau L eine Lehre als Näherin, heiratete und bekam 3 Kinder, von denen eines an einer körperlichen und geistigen Behinderung litt. Sie entschied sich, das Kind zu Hause zu behalten und zu pflegen. Ihr Mann, von Beruf Elektriker, verstarb recht für an einer Krebserkrankung. Frau L entwickelte in der Folgezeit ihre Kreativität und wurde auf vielfache Weise künstlerisch tätig (Basteln für Basare). Sie fand an ihrem Wohnort einige Gleichgesinnte, mit denen sie sich regelmäßig zum gemeinsamen Schaffen zusammenfand. Parallel zu dieser Entwicklung begann sie, sich für esoterische Themen zu interessieren, an diversen Sitzungen teilzunehmen und ihre Leben und Entscheidungen an angeblichen Zeichen und Botschaften zu orientieren. Bald galt sie in ihren Kreisen als bedeutsamer Kanal für wichtige Botschaften und wurde um Rat und Botschaft angefragt. In diese Zeit fiel auch die Pflege und Betreuung ihrer Mutter: auch hierbei wurden Entscheidungen, Behandlungen und Abläufe zunehmend von Botschaften und Zeichen bestimmt, was heftige Auseinandersetzungen mit den Geschwistern und Professionellen sowie einen anhaltenden Bruch mit der eigenen Tochter mit sich brachte. 

Nach dem Tod der Mutter (2006) begann sie, zunehmend Alkohol zu sich zu nehmen und wenig zu essen: ihre körperliche Verfassung wurde schlechter und sie verlor massiv an Gewicht. Der Kontakt zur Familie brach weitgehend ab und sie verfiel immer mehr esoterischen Themen und Verfahren, an denen sie ablas, was, wann, wieviel sie essen, nach draußen gehen, Besuche machen etc. sollte. Der zunehmende Verfall führte zu verschiedenen Aufenthalten in der Psychiatrie (Entzug, Delirien, Mangelernährung): eine rezidivierende Depression wurde festgestellt. Seit 2012 lebt sie, veranlasst durch die Tochter, in einer stationären Einrichtung. 

Medikation: Dipiperon (gegen Unruhe), Escitalopram (SSRI), Mirtazapin (norandrenerg, dopaminerg)

Der Kontakt mit ihr ist einerseits bestimmt durch eine hohe Anspruchshaltung: jeden Tag hat sie neue, zumeist umständliche Vorstellungen von dem, was sie braucht und wie dies geschehen soll. Andererseits signalisiert sie gegenüber den Pflegenden deutlich ihre Angewiesenheit auf Hilfe und fordert diese auch für Anliegen ein, die sie nachweislich alleine bewältigen kann. Sie hört und sieht schlecht und ist wegen einer alkoholbedingten Polyneuropathie eingeschränkt in ihrer Beweglichkeit. Seit ihrem Aufenthalt leidet sie gelegentlich unter Panikattacken (schreit um Hilfe, klammert sich an, Herzschmerzen, Schwindel, Schweißausbrüche). Fr. L ist am Morgen eher müde und steht spät auf und ist am Morgen nur eingeschränkt ansprechbar. Sie beklagt Freud-, Lust- und Hoffnungslosigkeit, fühlt sich wie abgestellt und leblos. Sie grübelt viel und fragt, warum sie noch lebe – sie sei doch für niemanden noch von Nutzen und falle nur zur Last. An Suizid denkt sie aber nicht. Das Vertrauen in die Mitmenschen sei ihr verlorengegangen und sie sei misstrauisch geworden. Ohne nachdrücklich aufgefordert worden zu sein hat sie die Neigung, sich zurückzuziehen. Entscheidungen fallen ihr schwer, ihr Denken erfährt sie als verlangsamt, zäh, klagt über Vergesslichkeit. 

Fr. L nimmt an den Angeboten der Einrichtung gelegentlich teil, wenn man sie hinbringt und sie während der Teilnahme viel Aufmerksamkeit und Unterstützung erhält. Am besten ist es, wenn sie mit einer anderen Person etwas zusammen machen kann, z.B. Spazierengehen. Die Teilnahme ist tagesformabhängig.  Es kostet sie immer große Überwindung, sich aufzuraffen und sich mitnehmen zu lassen.

Assoziationen zum Fall

Die hohen Erwartungen des Vaters, die strenge Religiösität: nie konnte man es ihm recht machen. Die eigenen Bedürfnisse gelten nichts.

Der Suizid des Vaters: empfindet sie dafür eine Verantwortung?

Das behinderte Kind, für das man ‚endlos‘ da sein muss, das aber nie ‚gut‘ werden kann.

Kunst und Esoterik: ein Gegengewicht zur Pflege der Mutter, Orientierung und Bedeutsamkeit finden, sich aufwerten, für andere beratend da sein. 

Die Bereitschaft, sich aufzuopfern wie die Mutter. Im Aufopfern aber auch die Dominanz: zu wissen glauben, was andere glauben und andere Meinungen nicht gelten lassen können. 

Der Tod der Mutter (Scheitern?) und der Beginn von Alkoholismus, Vernachlässigung und Mangelernährung: Aufgabe der Selbstverantwortung. 

‚Unendliche Bedürftigkeit‘: für immer mehr Dinge des Lebens Hilfe in Anspruch nehmen wollen (müssen) und nicht mehr gut allein sein können. Gelingt dies nicht, erfolgt der Rückzug. 

Fragen:

  • Wie kann ihrer ‚grenzenlosen Bedürftigkeit‘ entsprochen werden, dennoch die noch vorhandenen Selbstpflegekompetenzen gefördert werden?
  • Wie kann man sich auf ihre Seite stellen, ohne dass man sie ‚grenzenlos‘ bedient?
  • Wie kann ihr ‚Selbstverantwortung‘ zurückgegeben werden, ohne dass sie den Eindruck gewinnt, im Stich gelassen zu werden?
  • Kann man sich ihrer ‚Ansprüchlichkeit‘ und Kontrolle entziehen oder dem Grenzen setzen, ohne dass dies in Kränkung mündet?

Eigener Kommentar:

Im Nachspüren des Falls kommt einem der Begriff der ‚konstruktiven Resignation‘ in den Sinn (Jaques 1973). Gemeint ist eine im Angesicht des Scheiterns und des nahenden Todes berechtigte resignative Haltung, die aber nicht darin versinkt, sondern das wenige Leben, das bleibt, ernstnimmt und gestaltet. Es verbindet sich mit der Frage, was es denn bis zum Ende noch werden soll, was es vielleicht doch noch zu sagen und zu tun hat. Und ob es so enden soll, wie es sich jetzt darstellt. Sich fragen, ob es noch eine andere Erzählung von sich gibt als die der Vergeblichkeit und des Versagens. Diese Überlegungen nicht gemeint als Fragen, sondern als Hintergrund für die Begegnung, als eigene geistige Arbeit für den Umgang mit der Person. Einerseits gilt es, die Depressivität der Klienten zu akzeptieren, andererseits zu schauen, welchen Bewegungs- und Gestaltungsraum es innerhalb dieser Akzeptanz noch geben kann. 


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5 Antworten

  1. Norbert Zimmering sagt:

    Das Thema „Sucht“ wird nach meinen jahrzehntelangen Erfahrungen als Einrichtungsleiter immer noch zu sehr im praktischen Pflegealltag vernachlässigt. Im Fallbeispiel wird es im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter erwähnt. Also Auslöser: Verlusterlebnis? Hilfreich, weil zum Reflektieren angeregt, sind die markanten Beispiele aus der Biographie. Der unter Zeitdruck stehende Pflegealltag verführt Pflegende, vorschnell und sträflich den Alkoholbedarf des Bewohners auf die Etikettierung “ Alkoholiker“ zu reduzieren. Damit wird der Bewohner mit seiner Situation m. E. allein gelassen. In der Regel erhalten die Pflegenden bei der Heimaufnahme kaum diese Fülle an biografischen Informationen, wie sie im Fallbeispiel genannt sind.

    • Christian Müller-Hergl sagt:

      Sucht ist in der Tat ein oft unterschätztes Thema. Suchtkranke alte Menschen werden häufig stigmatisiert, oft eben auch deswegen, weil – wie Sie schreiben – die Hintergründe unbekannt sind. Ich mache die Erfahrung, dass Fallbesprechungen zusammen mit Angehörigen hilfreich sind, vertiefend in die Biographie Einsicht zu gewinnen. Leider fehlen dafür häufig die Rahmenbedingungen. Zum anderen gibt es in den wenigsten Einrichtungen ein Konzept bgeschweige denn Fortbildungen im Umgang mit Suchterkrankungen. Besonders die Kombination von Benzodiazepinen und Alkohol ist riskant (Sturz!).
      Danke schön für Ihren Beitrag!

  2. Heike Jurgschat-Geer sagt:

    Ich frage mich, ob die Bewohnerin nicht die Rollenerwartung der Aufopferung (Frau dient und pflegt) verinnerlicht hat und mit der Erwartung verbindet, dass ihre Töchter diese Aufgabe nun eigentlich erfüllen müssten, so wie sie es in Tradition für die Mutter und die Tochter getan hat. Dabei wären die Pflegekräfte eigentlich nur die Projektionsfläche und der Ersatz für die Tochter. Das wäre meine erste Assoziation und Überlegung zu dem Thema.

    • Christian Müller-Hergl sagt:

      Dies ist eine interessante und möglicherweise zu verfolgende Spur. Obwohl die Klientin selten von ihren Kindern spricht, könnte ihr Verhalten symbolisch für die vermisste Pflege und Anerkennung durch die Töchter stehen. Hätte dies dann Folgen für die Art und Weise, in der Beziehung und Pflege gestaltet werden?

      Bereits in der Pflege ihrer Mutter zeigte sie sich sehr dominant und besitzergreifend und hat diese Tenedenz später schizotyp ins Esoterische ausgeweitet. Ich erachte dies für eine Möglichkeit, Kontrolle auszuüben und Macht zu erleben, (soziale) Ängste zu kompensieren. Mit dem Tod der Mutter und dem zunehmendem Alkoholismus scheint sich diese Strategie zu entleeren und immer weniger zu helfen, obwohl sie zunächst intensiviert wird (wie auch nicht?). Die Strategie führt zur Isolierung und Vereinsamung, zur Verstrickung in immer komplexere Vorstellungen von Kontrolle. Dies letztere, so vermute ich, wird in der Pflegebeziehung bestimmend: nur unter ganz bestimmten Bedingungen, welche die Klientin vorgibt und die in ihrem Charakter zunehmend schizotyp ausfallen, kann sie selbst Hilfe und Unterstützung annehmen. Sie muss durch ihre oft wirre und nicht nachvollziehbare Anspruchshaltung hindurch Hilfe und Unterstützung annehmen. Anders geht es nicht als innerhalb des Teufelskreises, in dem die Klienten gefangen ist. Bedingt durch die vielfältigen Verluste und ermüdet durch das tagtägliche ‚Gerangel‘, durch das hindurch sie die Pflege nur annehmen kann, überlagert sich dieses Geschehen durch zunehmende Depressivität. Dies scheinen mir nun die beiden Ankerpunkte für die Pflege zu bilden: einen akzeptierende, annehmende Haltung gegenüber ihren skurrilen Ideen, also mit Gelassenheit auf ihre Vorstellungen reagieren; andererseits ihre Klagsamkeit annehmen und ohne Druck immer wieder Gelegenheiten bereitstellen, beim gemeinsamen Tun sich anders als depressiv oder seltsam- im Sinnen von ‚anders‘ – zu erfahren.
      Wenn die Pflegenden das hinbekommen, kann das vielleicht auch ersatzweise der Nähe der nicht präsenten Töchter gleichkommen. Es gilt also, ihr Verhalten nicht als nervend, übergriffig, manipulierend aufzufassen, sondern als durch das Leben geformte ‚Gestalt‘, die bestimmt, wie sie jetzt Hilfe annehmen kann.

      • Heike Jurgschat-Geer sagt:

        aus meiner Sicht wäre der erste Schritt: die Pflegenden müssen verstehen, dass die Ursachen des Verhaltens in der Biographie und Lebenswelt der Bewohnerin mit hoher Wahrscheinlichkeit zu suchen sind und nichts mit den Personen der Pflegenden zu tun haben. Diese werden vermutlich austauschbar sein, ohne dass es zu einer Verhaltensänderung kommt. Dann würde es in einem 2. Schritt leichter fallen, das Verhalten zu akzeptieren und damit umzugehen.

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