
– Diskutieren Sie mit – Die DZLA Fallvorstellung –
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Schizophrenie im Alter
Bezüglich der Klientin, Mitte 70, werden zwei Hauptdiagnosen angegeben: Depression und Schizophrenie.
Der Vater kam aus dem Krieg nicht zurück, die Mutter war mit insgesamt 6 Kindern überfordert: ein armes und karges Leben als Kind. Früh beginnt sie, als Haushaltsgehilfin zu arbeiten, früh heiratet sie einen Mann, der nicht gut zu ihr passt. 3 Kinder entstammen dieser Ehe, früh wird sie vom Mann verlassen und geschieden.
Zurückgelassen mit 3 Kindern muss sie deren 2 abgeben, das dritte nimmt sich später das Leben. Sie lässt sich auf verschiedene Beziehungen ein, die alle nicht tragen. Eine Weile lebt sie obdachlos, kommt in verschiedenen Schlaflagern unter, erlebt diverse Übergriffe und entwickelt in diesem Zusammenhang eine beginnende Angststörung. Sie ist schreckhaft, überwach, leicht reizbar, zeigt Vermeidungsverhalten, Entfremdungsgefühle (wie wenn sie eine andere wäre) – alles mögliche Zeichen einer Traumatisierung.
Ein betreutes Wohnen wird für sie organisiert. Zwar findet sie dort einen Freund, kommt aber dort nicht zurecht, fühlt sich verfolgt und bedroht, entwickelt Vergiftungsängste, verliert massiv an Gewicht. Diese Entwicklungen ziehen einen Heimaufenthalt nach sich.
Dort stabilisiert sich ihr Zustand. Gerne hört sie Schlager, liest Zeitschriften, nimmt am Erzählcafe gerne teil, besucht die Messe, nimmt teil am gemeinsamen Singen, telefoniert viel mit ihrem Freund, der im betreuten Wohnen verbleibt, sie auch gelegentlich im Heim besucht.
Sie fängt an, viel unnützes Zeug zu sammeln und zu horten: Zeitungen, Postkarten, Pakete, Tüten mit unklarem Inhalt. Ihr Einzelzimmer ist vollgestopft, nur die Gänge zum Bett und zum Bad können mit Mühe freigehalten werden. Die eine Hälfte des Betts ist mit vielen Dingen belegt, so dass nur ein schmaler Rand für das Liegen verbleibt. Problematisch ist der Akt des Wäschewechsels: Hierbei muss das Bett freigeräumt werden – was zumeist nur unter lautem Protest und mächtigem Schimpfen möglich ist. Das Fenster darf nicht geöffnet werden – sie will keine Frischluft und vermeidet es, sich in Räumen mit offenstehenden Fenstern aufzuhalten.
Besondere Aufmerksamkeit kommt dem Bad zu. Dies wird nicht vollgestopft, stattdessen umfassend geputzt – mit Fußcreme. Sie hat eine extra Bürste, mit der sie alles mit Fußcreme ‚einseift‘ und dann mit einem Lappen wegwischt. Andere Putzmittel lässt sie nicht zu. Die Aktion nimmt jeden Tag viel Zeit in Anspruch. Kein Problem aber hat sie, wenn die Dame vom Reinigungsdient anschließend das Bad putzt.
Die Selbstpflege kann sie größtenteils eigenständig bewältigen. Zuweilen benötigt sie ein wenig Hilfestellung beim Duschen, zumeist aber reicht eine Begleitung 1x in der Woche, wobei eine reine Anwesenheit mit kleinen Hinweisen für alle Vorgänge ausreichend ist.
Im Kontakt kann sie neutral bis freundlich sein, wenn man nichts von ihr will bzw. verlangt, schnell aber kann dies kippen in eine launische, ärgerliche, morose Stimmung. Dann scheint sie alles übel zu nehmen, zeigt sich leicht kränkbar, nachtragend, zuweilen auch eifersüchtig auf jede Zuwendung, die anderen zuteil wird. Wird dann im Raum gesprochen, bezieht sie dies auf sich selbst und beklagt sich laut, da werde wieder böse über sie gelästert.
Bei den Mahlzeiten ist sie lange und umständlich mit den Speisen unterwegs: zerkleinert erst alles, sortiert und pult dies und das heraus, sortiert alles in eine ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Seite, füllt das Gute um in ein extra Schälchen. Dabei ist keine Regelmäßigkeit erkennbar: an einem Tag sind die Rosinen im Brot ‚böse‘, am anderen sind sie ‚gut‘. Für dieses Sortieren benötigt sie lange Zeit – oft zum Ärger ihrer Tischgenossinnen, die sich ob dieser ‚Pulerei‘ aufregen. Allerdings: weder die Dame noch ihre Tischgenossinnen wollen den Platz wechseln. Unabhängig von der Tischgemeinschaft oder ihrer Teilnahme an Gruppen nimmt sie zu anderen Bewohnerinnen keinen Kontakt auf.
Hintergrund
Zwar ist über ihren Hintergrund nur wenig bekannt, dennoch lässt sich vermuten, dass sie einen sehr ungünstigen Start hatte mit wenig Beachtung und Zuwendung. Vollständige Überforderung mit sich und dem Leben kennzeichnet den Start und die frühen erwachsenen Jahre. Sie wiederholt z.T. das Schicksal ihrer Mutter und kann die eigenen Kinder nicht versorgen. Der Suizid eines ihrer Kinder wiegt vermutlich sehr schwer.
Diese Deprivations-, Verlust und möglicherweise Missbrauchserfahrungen erklären die Ängste, das Misstrauen, das Bedürfnis, sich zu schützen, einzumauern, einen Schutzmantel zu entwickeln. Eine wirkliche Nähe ist nicht möglich, sie kann sich – mit Ausnahme ihres Freundes – nicht wirklich Menschen und Welt öffnen, sie kreist um sich selbst – allerdings lässt sie Pflege zu und erträgt, wenn auch schimpfend, den Wäschewechsel, also einen Eingriff in ihre geschützte Welt. Sie wirkt dünnhäutig und leicht reizbar, reagiert auf zuviel Außenreize mit selbstgewählter Isolation. Mit ihren Eigenheiten und Eigensinnigkeiten entzieht sie sich dem Zugriff anderer und hält sich andere auch vom Leibe. Soziale Normen bedeuten ihr wenig bis nichts. Kleinigkeiten wie das Essen (oder die Reinigung des Bades mit Fußcreme) werden überwertig und zum Gegenstand von Orientierung – in ‚gute‘ und ‚böse‘ Speisen. So wird eine fragile, situationsabhängige Orientierung, Wertung, ja Sinn hergestellt. Stört man ihre Kreise, kommt schnell ein ‚Abwehrfeuer‘. Insgesamt zeigt sie aber keine akute Positivsymptomatik: weder halluziniert sie noch zeigt sie ausgeprägte Wahnvorstellungen. Die emotionale Anspannung hält sich in Grenzen, sie zeigt keine Impulsdurchbrüche und kann sogar an Gruppen teilnehmen.
Es entsteht die Vorstellung, dass es der Dame unter den gegebenen Umständen recht gut geht. Sie kann ihre Eigenwilligkeiten leben, Eingriffe beschränken sich auf ein Minimum. Die Pflegenden haben sich auf sie eingestellt und geben ihr genügend Raum, ihre Rituale und eigenwilligen Aktionen durchzuführen. Solange sie keine verderblichen Speisen hortet, sich durch Vernachlässigung gefährdet, solange sich die Eingriffe begrenzen lassen, lebt die Klientin auf ihre Weise in einer echt stabilen Verfassung. Dies gilt es solange wie möglich zu stabilisieren.
Fallbesprechung 006 hier abrufbar: DZLA-Fallvorstellungen-Psychische-Stoerungen-November-2021-11
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2 Antworten
Gutachterlich muß man hier sehr genau hinschauen und erheben,
a. in welchem Modul die Klientibn tatsächlich Hilfe durch Dritte benötigt
b. die Häufigkeit der Hilfelesitungen
wichtig ist auch, dass die Pflege jegliche – auch kleine – Veränderungen dokumentiert
Guten Morgen, mir eröffnen sich einige Fragen.
1. Wie verhält sie sich im Kontakt mit ihrem Freund? Läßt sie Nähe zu, was wird kommuniziert, was tun sie gemeinsam.
2. Wurde versucht, dass sie sich mit etwas anderem beschäftigt, was kennt sie aus früheren Zeiten.
3. Könnte das Pärchen gemeinsam leben. Wie ist es um ihren Freund bestellt. Wie und warum lebt er in einer Einrichtung. Wie fand der Kontaktaufbau statt. Wie verhält er sich ihr gegenüber.
4. Konnte erfragt oder eruiert werden, warum sie das Bad mit Fußcreme reinigt. Zu welchem Zweck. Mußte sie vielleicht immer die Schuhe der Familienmitglieder säubern und polieren. Mochte sie es, weil es danach glänzt.
5. Wie beteiligt sie sich an Gesprächsgruppen oder Aktivierungsspielen oder gemeinsamen Reinigungsarbeiten.
In jungen Jahren durfte ich die 1. Erfahrung mit einer jungen Frau auf der Psychiatrie machen. Mit Temperament, freundlich offen handelte ich mir eine Ohrfeige ein und vor ca. 5 Jahren in der amb. Pflege, in einem Männerwohnheim, Versorgung Mann (ca. 45 Jahre) nach der Grundreinigung des Appartments (schmutzig, MRSA, infiz. Wunden, teilweise sich selbst zugefügt, mitarbeitend bei der umfangreichen Wundversorgung, teilweise eigene Grundpflege, erkannte aber seine Dusche nicht mehr…), zur Beschäftigung motiviert, völliges Unverständnis auch zu Hygienemaßnahmen.
Ein verrücktes Krankheitsbild mit kumulierenden Nebenerscheinungen.
Vielleicht liege ich fehl mit meinen Fragen, da es sich mir noch nicht eröffnete was bezweckt werden soll. Bspw.: Ist die richtige Einrichtung.
Grüße B