Fallvorstellungen (007)

– Diskutieren Sie mit – Die DZLA Fallvorstellung –

Diskutieren und beteiligen Sie sich an der Bearbeitung des Falls auf unserem Blog! Damit unser gemeinsamer Blog nicht „vollgespammt“ wird, muss jeder Kommentar von uns freigegeben werden.

Sie können auch auf Facebook oder Twitter den Fall diskutieren. Wir sammeln regelmäßig Ihre Posts und werden Sie an den Fall anhängen!


Wut und Kontrolle

Der 96 jährige Heimbewohner, aus Schlesien stammend, hatte sein eigenes Elektrofachgeschäft mit Angestellten. Das Handwerkliche bestimmte sein Leben: bis heute bastelt er gerne, in seinem Zimmer steht eine kleine Werkbank mit vielen Werkzeugen und Utensilien. Beide sind weiterhin sehr wichtig für ihn, er befasst sich damit, allerdings ohne erkennbares Ergebnis.

Der Herr war zeitlebens bei den Mormonen engagiert. Aus dieser Gemeinde kommen regelmäßig Gemeindemitglieder, die mit ihm beten, dann wieder gehen.

Er ist verwitwet, hat 2 Töchter, von denen eine ihn alle 2 Wochen kurz besucht. Diese Tochter hatte die Vorsorgevollmacht für ihren Vater, hat dies aber nach schweren Konflikten mit ihrem Vater in professionelle Hände abgegeben. Die Besuche haben die Qualität von Pflichtbesuchen, ihren Vater schätzt sie als schwierig ein – es sei schon immer in Kommunikation und Interaktion mit ihm problematisch gewesen, die familiäre Atmosphäre angespannt und belastend. Die andere Tochter kommt nicht, bekannt ist, dass diese gesundheitlich schwer angeschlagen ist.

Der Klient weist keine besonderen kognitiven Defizite auf: er kennt alle Personen namentlich, ist zeitlich orientiert, erinnert sich an jüngste Ereignisse, kann telefonieren, kann gelegentlich (wenn in guter Stimmung) über sich und sein Leben passend und glaubhaft erzählen (keine Konfabulation). Er leidet an Parkinson, nimmt seine Medikamente (Levodopa) aber nach Lust und Laune. Er fragt immer nach, was das ist, das er bekommt: psychoaktive Substanzen (Quetiapin wegen Aggressivität) lehnt er ab, er sein psychisch gesund und nicht auffällig. Infolge unregelmäßiger Medikamenteneinnahme haben Gebrechlichkeit und Schwäche zugenommen, insbesondere nach diversen Stürzen und Frakturen. Er ist rollstuhlmobil, hält sich zumeist in seinem Zimmer auf und hat wenig Interesse am Leben im Heim bzw. am Zusammensein mit anderen BewohnerInnen. Sein schon Beginn schwieriges Verhalten hat mit zunehmender Gebrechlichkeit in Häufigkeit, Schwere und Belastung zugenommen.

Sich dem Herrn mit einem pflegerischen Anliegen zu nähern ist ein Grenzgang und zuweilen gefährlich. Er hat sehr genaue Vorstellungen davon, was richtig und angemessen ist und versucht, jede kleinste Handreichung bis ins Detail zu kontrollieren. So möchte er im Zimmer speisen. Das Essen muss in einem festen, abgeschlossenen Behälter angeliefert werden. Darauf muss sie Mitarbeiterin sich die Hände mindestens drei Minuten lang waschen – er sitzt dabei und misst die Zeit mit der Uhr. Sodann gilt es, sich die Hände zu desinfizieren. Dann darf der Behälter geöffnet und die Speise entnommen werden. Das Ei muss in seinem Zimmer gekocht, zuvor aber desinfiziert werden. Beim Abendbrot müssen die Brote vor seinen Augen belegt und auf bestimmte Weise vorgeschnitten werden. Dabei variiert er beständig seine Anordnungen, so dass es immer wieder Grund zum Klagen gibt, weil es jetzt und hier für ihn mal wieder nicht stimmt.  Er verlangt, am Morgen als erster versorgt zu werden, punkt genau um 6:30. Weicht irgendetwas von seinen Abläufen ab, gibt es auch nur die kleinste Unstimmigkeit (und die gibt es meistens), dann eskaliert das Verhalten eruptiv: er beschimpft den/die MitarbeiterIn maßlos, wirft mit Schuhen und anderen Gegenständen nach dem Mitarbeiter, macht rassistische Bemerkungen (‚blödes Türkenschwein‘, ‚fette Sau‘), wobei es ihm gelingt, für jeden den wunden Punkt zu finden und zu treffen. Ist er einmal in dieser negativen Stimmung gefangen, klingelt er permanent mit diversen, oft skurrilen Anliegen (Tisch wischen, Boden sauber machen, Klo jetzt putzen etc.), die objektiv besehen irrelevant und unnötig sind. Weist man diese Anliegen zurück, wird erneut geschimpft und geworfen.

Die Tochter, auf dieses Verhalten angesprochen, findet dies auch ganz schrecklich und schämt sich für ihn. Auch sie wird regelmäßig beschimpft und beworfen. Spricht man ihn auf dieses Verhalten an, fängt er an zu klagen und zu jammern, geht aber auf das Thema nicht ein. Er meint, er können alles nicht mehr, bedauert und beklagt sein Schicksal. Prinzipiell aber geht er auf das Schimpfen und Werfen nicht ein, gelegentlich sagt er pauschal, das stimme ja alles nicht. Die Psychiaterin, auf das Verhalten angesprochen, meint, da könne man halt nichts machen, es handele sich um eine Persönlichkeitsstörung.

Zum Verständnis: Es fällt auf, dass der Klient Hilfe und Zuwendung immer nur durch einen schmalen Korridor von Kontrolle, Zwang und Bestrafung hindurch zulassen kann, so wie wenn Hilfe annehmen eine Kränkung darstellt, die Bestrafung verdient. Durch die beständige Variation seiner Anforderungen ergeben sich immer wieder reichlich Gelegenheiten für Gewalt und Beschimpfungen. Soweit aus den Berichten der Tochter und den Erfahrungen der Pflegenden zu schließen ist, versucht der Klient, die Situation kompensatorisch bis ins letzte Detail zu beherrschen, zu dominieren, mit zunehmender Tendenz bei wachsender Abhängigkeit. Gelingt ihm das nicht, dann eskaliert die Situation mit Tendenz zur Katastrophe, Wut vielleicht als letzter Dominanzversuch, vielleicht auch als Reaktion auf das Scheitern der Dominanz. Wird er damit konfrontiert, dann stellt er sich nicht, setzt sich nicht auseinander, sondern kollabiert auf depressive Weise. In der Deutung ist an eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu denken, die mit Alter und Abhängigkeit in ihrer Ausprägung deutlich zunimmt, und bei Konfrontation depressiv umschlägt. Der Klient fühlt sich in seiner Freiheit und Autonomie eingeschränkt und trägt dies paranoid an den Pflegenden und der Tochter aus.

Generell empfiehlt es sich, im Umgang weiterhin freundlich und zugewandt zu bleiben und Verständnis dafür zu zeigen, dass das Leben im Heim für ihn eine Zumutung darstellt. Eine Betreuende widmet sich regelmäßig dem Herrn und bastelt mit ihm an der Werkbank, was ganz gut funktioniert. Wenn möglich sollten Mitarbeiter den Dienst beim Klienten verrichten, die über viel Erfahrung und eine hohe Resilienz verfügen. Dem Bewohner werden Grenzen deutlich gemacht: das Werfen von Gegenständen wird in jedem Fall zur Anzeige gebracht (0 Toleranz bei Gewalt) und an ihn kommuniziert, bei Beschimpfungen wird umgehend das Zimmer verlassen und nicht vor Ablauf einer Stunde wieder betreten. Es wird verhandelt, welche besonderen Dienste möglich sind und welche nicht. So kann das Mittagessen weiterhin im Behälter angeliefert werden, das Ei aber wird nicht in seinem Zimmer zubereitet. Eine übliche Händedesinfektion muss reichen. Falls er sich in seinem Verhalten nicht mäßigt, wird eine Kündigung des Heimvertrages in Erwägung gezogen und dies ihm auch glaubhaft kommuniziert. Alle Vorkommnisse werden sorgfältig dokumentiert und ggf die Heimaufsicht informiert.

Wichtig: trotz eines Vorkommnisses wird nach einer Stunde wieder versucht, einen freundlichen und zugewandten Kontakt herzustellen. Gelegentlich kann versucht werden, Verständnis für seine Situation deutlich zu machen, für die Zumutungen, so nun leben zu müssen. Trotz Ablehnung werden weiterhin positive Angebote unterbreitet, um der wahrscheinlich zugrundeliegenden depressiven Verfassung entgegenzuwirken.

Fallbesprechung 007 hier abrufbar:


Wir freuen uns auf Ihre Kommentare!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert