Interventionsforschung ausweglos?

DZLA Auf die Schnelle

-Auf die Schnelle-

Die zur Zeit gängige Interventionsforschung führt in eine ausweglose Sackgasse

Hintergrund:

Bisher vorliegende Ergebnisse der Forschung zur Unterstützung von pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz empfehlen eine Kombination von Schulungen und spezifischen Entlastungsangeboten wie Kurzzeit- oder Tagespflege. Die vorliegenden Evaluationen derartiger Programme weisen auf eine recht begrenzte Wirksamkeit dieser Programme hin. Die Autoren vorliegender Veröffentlichung unterziehen die Methodologie der Interventionsstudien einer grundsätzlichen Kritik, die wohl für andere Forschungen im Bereich der Interventionsstudien (besonders im Bereich der psychiatrischen Pflege) übertragbar sein dürfte.

Einer der Gründe scheint zu sein, dass die auf den Studien fußenden formellen Angebote die Besonderheiten des Einzelfalls, der Situation, des Kontextes zu wenig berücksichtigen. Die Autoren führen dies zurück auf das den Interventionsstudien zugrunde liegende klassische Krankheitsmodell – eine Person ist krank und für diese Person braucht es die richtigen Interventionen – , das den systemischen und familiaren Charakter der dementiellen Verfassung sowie ihre intrinsische Heterogenität nur ungenügend zu erfassen erlaubt. 

Methoden:

Ausgesucht werden eine beispielhafte Gruppe von Forschungen (n=27), an denen die Autoren ihre Kritik verdeutlichen. Anhand dieser Auswahl soll illustriert werden, wie das Thema der Demenz konzeptualisiert wird, wie unter dieser Perspektive Probleme erfasst werden und wie dies zur Entwicklung bestimmter Interventionen führt.

Ein klassischer Typus dieser Art von Forschung ist wie folgt angelegt:

Aufgrund hoher Kosten werden Studien damit begründet, teure Institutionalisierungen zu verringern oder zu vermeiden. Institutionalisierungen erfolgen – so die Annahme – weil Angehörige die häusliche Situation als ‚unmanageable‘, als unerträglich beurteilen. Also geht es darum, spezifische Faktoren zu identifizieren, die einer unerträglichen Situation vorausgehen – um sie durch gezielte Interventionen doch noch als ‚managable‘ zu bewerten, also auszuhalten. Demensprechend werden nun Faktoren gesucht, die entweder in der Person mit Demenz oder in der Person der pflegenden Angehörigen zu suchen sind. Daraus wiederum ergibt sich die Notwendigkeit, derartige Faktoren verlässlich und valide anhand von Messinstrumenten zu erfassen: Kognition, Verhalten und Abhängigkeiten in den Aktivitäten bzw. Belastungserleben, Persönlichkeit und ‚mastery‘ (oder Coping, Resilienz etc.) der Angehörigen. Ziel derartiger Untersuchungen ist es dann, zu klassischen ‚wenn-dann‘ Beziehungen zu kommen, also einen ‚Algorithmus‘ zu entwickeln: wenn diese und jene Erkrankung p mit den Merkmalen/Faktoren x vorliegen, dann sind gewisse Ergebnisse z bei Personen mit Demenz und Belastungserleben der Angehörigen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorhersehbar, welche durch Interventionen y derart beeinflusst werden können, dass z nicht eintritt. Dies ist die Grundlage des NDB-Modells (Need-driven comprimised behaviour).

Krankheitsmodell:

Die Bildung eines solchen Algorithmus fußt auf der Bildung von ‚Krankheitseinheiten‘, welche die Grenze zwischen normalem und pathologischem Altern anhand von Merkmalen zieht mit dem Ziel, spezifische Pathologien mit spezifischen Symptomen der Demenz in Verbindung zu bringen. Die Vorstellung geht dahin, dass eine gezielte Behandlung spezifischer Pathologien auch die Symptome mildert bzw. heilt oder auch die damit einhergehenden Probleme (Verhalten, Abhängigkeit) zu beeinflussen erlaubt. Da solche Medikamente oder andere Behandlungen bislang nicht bzw. nicht ausreichend wirksam vorliegen, geht man einen Schritt zurück und versucht, frühere (beeinflussbare) Risikofaktoren zu identifizieren (und möglichst dann auch zu modifizieren) – idealerweise anhand eines einzigen, hervorstechenden Merkmals, das bei Vorliegen eine Demenzentwicklung mit Sicherheit erwarten lässt.  

Ein solches Vorgehen hängt von der Annahme ab, dass es sich bei der Demenz bzw. den Demenzen um klar umrissene (natürliche) Arten/Entitäten handelt, die man identifizieren und unterscheiden kann. Diese Arten werden anhand von Symptomclustern oder hirnpathologischen Merkmalen gebildet: damit kommt Ordnung in die Sache, die Person ‚har‘ dann eine spezifische Pathologie, z.B. Alzheimer. Es wird also eine Homogenität in einem höchst heterogenen Feld hergestellt (also ‚gemacht‘) und anschließend ‚naturalisiert‘, wobei der Konstruktcharakter dieses Vorgehens aus den Augen gerät. Den verschiedenen Symptomen wird damit eine zugrundeliegende Einheitlichkeit unterstellt, die zwar verschiedene Ausprägungen erlaubt, aber im Grunde immer wieder das ‚Eine‘ ist. (ex pluribus unum)

Dieses Vorgehen erlaubt eine Grenzziehung für die Identifizierung des ‚Problems‘: das liegt jetzt klar in der Person selbst verortet (Individualisierung eines Systemzusammenhangs) und hilft, kontrollierbare Interventionen primär für die Person bzw. die pflegenden Angehörigen zu entwickeln.

Die Methodologie dieser Art von Forschung entspricht damit der klinischen Praxis, gezielte kontrollierbare Interventionen für Einzelne zu entwickeln mit einem klar erkennbaren und vorhersehbaren Effekt. So wird Planbarkeit und Kontrollierbarkeit hergestellt.

Die Rückkehr der Heterogenität:

Die hinter der so geschaffene Einheit ‚Demenz‘ weiterhin bestehende Heterogenität der konkreten Zustandsbilder und Erscheinungen meldet sich dadurch zurück, dass Standardinterventionen höchst unterschiedliche und keine einheitlichen Effekte aufweisen, in den Worten eines Forschers: einige Interventionen werden für einige Patienten mit einigen Problemen manchmal wirksam sein und manchmal nicht. Eine konzeptionelle Folge dieser Entwicklung sind Hilfshypothesen von der Art, Interventionen der einzelnen Person und ihrem Kontext flexibel anzupassen (‚individually tailored‘). Woran in diesem Denkmodell allerdings nicht gerüttelt werden ‚darf‘ ist die Annahme einer trotz vielfältiger Erscheinungsformen und Zustandsbilder einheitlichen Krankheitsursache, also die Aufgabe der Homogenität der geschaffenen Einheit Demenz. An die Stelle der Aufgabe dieser Annahme tritt die Forderung, methodisch besser (länger, komplexer, multizentrisch, Komorbiditäten berücksichtigend, strengere Auswahlkriterien der Population aufstellend etc.) zu forschen, um die Unbestimmtheit der Ergebnisse zu überwinden und dann doch endlich an die gewünschten wenn-dann Beziehungen und damit zu den gewünschten klinischen Vorgehensweisen zu kommen.

Trotz all dieser Hilfshypothesen hat sich die Qualität der wenn-dann Beziehungen nicht verbessert, so dass beteiligte Personen in ihren Lebenskontexten weiterhin nicht ausreichend in den gewünschten Algorithmus hineinpassen. Also bleibt nichts anderes übrig, als an der Methodologie zu feilen und weitere Hilfshypothesen zu entwickeln: stimmt die ‚Dosis, die Intensität, ist die Intervention ‚manualisiert‘, die Intervenierenden gut genug ausgebildet, die Assessments zuverlässig durchgeführt etc. Probleme mangelnder Passung werden zu Herausforderungen der Statistik. Es bleibt dabei fraglich, ob man mit der Statistik der Verschiedenheit und Fluidität von Lebensarrangements, innerhalb derer sich Demenz entwickelt, gerecht werden kann.

Drei Merkmale:

Die Autoren kommentieren drei Merkmale vorliegender Studien:

Fokussierung auf die ‚Dyade‘ Person mit Demenz und primärer pflegender Angehöriger: Ein weiteres Umfeld wird selten in den Blick genommen, ‚der‘ oder ‚die‘ pflegende Angehörige müssen durch Schulungen und Trainings professionalisiert werden, um die Person mit Demenz besser zu managen. Damit werden den Angehörigen professionelle, ja institutionelle Charakteristika zugewiesen und der familiare Charakter der Beziehung verkannt: oft sind es die nicht-professionellen, persönlichen Merkmale von komplexen familiaren und freundschaftlichen Beziehungen, die das Leben mit Demenz in einer Familie ermöglichen. ‚Professionalität‘, ‚Management‘ und die Fokussierung auf die ‚Dyade‘ verengen die Perspektive, bieten falsche Assoziationen an und werden der familiaren Situation nicht gerecht.

Stabilisierung des Forschungsobjekts: Um eindeutige wenn-dann Beziehungen aufzubauen, muss das ‚Forschungsobjekt‘ möglichst eindeutig und homogen ausfallen. Daher werden zumeist Personen mit anderen psychischen Erkrankungen ausgeschlossen und durch vielfältige Merkmale vorgeblich ‚vergleichbare‘ Gruppen gebildet (wobei die eine idR eine Intervention erhält, die andere nicht oder später). Vergleiche ermöglichen dann angeblich die Beurteilungen der Effektstärke. So erhält eine Gruppe kognitive Stimulation, die andere nicht: ausgeblendet wird dabei, dass Umgebungsfaktoren und die Zusammensetzung der Personen in der Vergleichsgruppe u.U. sehr viel mehr anregender und kognitiv fordernder sein können als die Durchführung einer formalen Intervention in der Interventionsgruppe. Sowohl die Personen mit Demenz wie auch die Intervention werden ‚abgehoben‘, abstrahiert von den konkreten Örtlichkeiten, Kontexten und umgebenden Personen. An die Stelle realer Personen in komplexen Lebensumständen treten Messwerte, die aber die realen Verhältnisse nur ungenau widerspiegeln. Dies nennen die Autoren ‚Unterbestimmtheit‘ des Forschungsobjekts, d.h. die Werte bilden nicht wirklich ab, was hier warum geschieht und wirkt und was nicht. Unter den Bedingungen dieser methodologischen Vorgaben werden demnach ‚Fakten‘ bezüglich der Wirksamkeit von Interventionen für bestimmte Personen geschaffen, deren Relevanz für ‚kontextualisierte‘, also reale Personen (‚situated‘) fragwürdig bleibt.  – Dies bleibt nicht unbemerkt und führt zu weiteren Hilfshypothesen: vielleicht waren die Interventionisten nicht engagiert genug, die Gruppen doch nicht ausreichend homogen, die Intervention nicht ausreichend manualisiert?

Die algorithmische Logik: Alle Interventionen sind sich im Grunde ähnlich – pflegende Angehörige sollen derart professionalisiert werden, dass sie gezielte Verhaltensänderungen bei Menschen mit Demenz – der wahren Quelle aller Probleme – bewirken bzw. lernen, mit diesem Verhalten besser zu leben. Die Standardfrage des Forschenden lautet: welches kleine Teil des komplexen Demenz-Puzzles, das innerhalb der Betroffenen und nur da zu lokalisieren ist, kann ich lösen? Etwaige Kontextfaktoren modulieren oder moderieren die Kausalkette, sorgen für den nötigen Feinschliff der Anpassung, aber die Logik der wenn-dann Beziehungen bleibt erhalten.

Diskussion:

Abschließend stellen die Autoren in Frage, ob der Abstraktionsprozess, durch den vielfältige Praktikalitäten des Lebens ausgeblendet werden um Homogenität zu schaffen, nicht in eine methodologische Sackgasse geführt hat. Wie würde Forschung in diesem Feld aussehen, wenn man die Homogenität des Forschungsgegenstandes aufgibt? Also: nicht viele Menschen ‚haben‘ Demenz, sondern es gibt (primär alte) Menschen, die mit sich und ihrem Leben komplexe und zunehmende Schwierigkeiten haben, bei denen das Vergessen und die Desorientierung einen, aber auch nur einen Faktor darstellen? Vielleicht sind bestimmte Interventionen (Bewegung, Gemeinschaft, Beziehung, Musik, Arbeit) für viele alte Menschen mit vielfältigen Problemen hilfreich, wobei aber nicht einzelne Symptome oder Syndrome maßgeblich sind für die Frage, ob eine bestimmte Intervention hilfreich ist oder nicht.  Vielleicht sind Fragen, wie und wo die Menschen mit wem leben, ob sie arm oder reich sind, ob sie einsam sind, welche Persönlichkeit sie aufweisen, welche Interessen sie pflegen, sehr viel hilfreicher für die Frage, warum etwas für wen hilfreich ist. Vielleicht ist es für diese Frage weitgehend unwichtig, ob die Person an Demenz leidet bzw. sie ‚hat‘ oder nicht.

Leider exemplifizieren die Autoren nicht weiter, wie denn eine andere Art von Forschung in diesem Feld aussehen könnte (was an dieser Stelle sehr bedauerlich ist!).

Quelle:

Ceci, C., Brown, H., Judge, H. (2020). Rethinking the assumptions of intervention research concerned with care at home for people with dementia. Dementia, 19(3), 861-877


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Christian Müller-Hergl

Dialogzentrum Leben im Alter (DZLA)

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