Kritisches Glossar: „Psychose“

Pflegen mit Wissen Dialogzentrum Leben im Alter

– Passt das psychiatrische Konzept der „Psychose“ auch bei Demenz? –

Die klassische, medizinisch geprägte Psychopathologie erweckt den Eindruck spezifischer, gut voneinander abgrenzbarer Erkrankungen, für die spezifische Behandlungen entwickelt werden. Tatsächlich aber ist die Begriffswelt der Psychopathologie im beständigen Wandel und besagt ein Begriff (z.B. Apathie) in dem einen Kontext (Demenz) nicht unbedingt dasselbe wie in einem anderen (Depression). Wir stellen Ihnen neue Begriffe und Fragezeichen hinter bestehenden (z.B. ‚affektive Störung‘) vor und diskutieren diese. 

In dieser Video-Folge reflektiert Christian Müller-Hergl kritisch das Konzept der „Psychose“ im Kontext von Demenzerkrankungen mit besonderem Fokus auf häufig vorkommende „Wahnvorstellungen“. Er bezieht sich bei seinem kritischen Anmerkungen auf eine spannende Publikation der renommierten Forscherin Prof. Jiska Cohen-Mansfield.



Infos zum Beitrag

Die Studie

Wahn oder Scheinwahn?

Wahnvorstellungen (‚delusion‘) kommen je nach Studie bei 12% bis 76% aller Menschen mit Demenz vor. Besonders häufig vertreten ist der Diebstahlswahn, die Vorstellung, das eigene Zuhause sei nicht die eigene Wohnung sowie Wahn mit ausgeprägtem Misstrauen (z.B. Eifersuchts- oder Vergiftungswahn). Wie es zu Wahnphänomenen in der Demenz kommt ist umstritten. Auffällig aber ist, dass Wahn in der Demenz nicht den üblichen Wahnkriterien entspricht, da Personen oft ihre Meinung ändern, wenn man sie mit der Realität konfrontiert (eher ‚Scheinwahn‘). Vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, ob es sich bei diesen subjektiven Vorstellungen bei Demenz um Wahnphänomene im klassischen Sinn handelt.

Methode

67 pflegende Angehörige von 67 Personen mit Demenz, die noch in eigener Häuslichkeit leben, wurden zu Kontexten, möglichen Ursachen, auslösenden Bedingungen von ‚subjektiven Wirklichkeiten‘ befragt. Die Studie schließt nur Angehörige von Menschen mit Demenz ein, die eine Psychose aufweisen.

Gründe für ‚subjektive Wirklichkeiten‘ und deren Bedeutung

Gründe, die mit der Umwelt und Umgebung zusammenhängen: Einige Vorstellungen entsprechen der Wahrheit: die Person mit Demenz lebt im Haus des Sohnes und empfindet, dass dies nicht ihr Zuhause ist. Weiterhin lösen Veränderungen in den Routinen Irritationen aus: Ein Herr mit Demenz erkennt seine alt gewordene und veränderte Ehefrau nicht wieder und bezweifelt daher, noch zuhause zu leben, weil dort auch ‚fremde‘ Personen zu wohnen scheinen. Die Anwesenheit einer im Haus lebenden fremden Pflegeperson ließ eine Person mit Demenz daran zweifeln, noch im eigenen Haus zu leben.  Ein unfreundlicher Umgang seitens einer Pflegekraft löste die Vorstellung aus, die Pflegekraft habe Geld gestohlen. Die lebhafte Unterhaltung mit dem eigenen Spiegelbild oder mit dem Sprecher im Fernsehen mag der Kontaktarmut geschuldet sein. 

Gründe, die mit der Person zusammenhängen: Lebenslang gehegtes Misstrauen gegenüber anderen bildet oft den Hintergrund für den Diebstahlswahn oder für den Eifersuchtswahn. Die Sehnsucht, geliebten verstorbenen Personen zu begegnen, lösen oft Verkennungen (‚illusion‘) aus. Zwar wurden immer wieder Personen verdächtigt, bestimmte Gegenstände gestohlen zu haben, allerdings wurden die Anschuldigungen zurückgenommen, so diese Objekte gezeigt werden konnten. In diesem Fall konnte ermittelt werden, dass die Person 3x im Leben einen Einbruch zu verkraften hatte. Da der Ehemann aushäusige Unternehmungen in Anspruch nahm, wurde er des Ehebruchs bezichtigt. In der Vergangenheit waren beide zusammen zum Tanz gegangen, was aufgrund der Demenz nun nicht mehr möglich war. 

Gründe, die mit der Demenz zusammenhängen: Dinge wurden verlegt oder verloren, um anschließend beteiligte Personen des Diebstahls zu bezichtigen. Zeigte man die Objekte, erfolgte eine Entschuldigung. 

Was für ein Wahn ist es dann?

Wahnvorstellungen in der Demenz scheinen häufig einen Kontext aufzuweisen, der die Vorstellungen nachvollziehbar und verständlich macht. Unerkannte Bedürfnisse, schwindendes Gedächtnis, Veränderungen in der Umgebung und den Routinen sowie Persönlichkeitsmerkmal bilden den Hintergrund für den Versuch der Person mit Demenz, sich die Umstände zu erklären. In vielen Fällen ist der Wahn direkte Folge der kognitiven Einbußen. Man kann sich die Welt nicht erklären und füllt diese Lücke mit Vorstellungen, die subjektiv Sinn ergeben. Häufig handelt es sich um einen Scheinwahn, der sich bei einer vernünftigen Erklärung der wahren Umstände wieder auflöst. Eben dies aber widerspricht der psychiatrischen Definition der Wahnvorstellung, die von einer von Erfahrung unabhängigen Gewissheit der irrigen Vorstellung ausgeht. Es handelt sich also im Falle der Demenz nicht um grundlose fixe Ideen, sondern um den Versuch, sich unter den Bedingungen kognitiver Defizite die Welt zu erklären. 

Dies wiederum lässt es fraglich erscheinen, ob die Gabe von antipsychotisch wirksamen Medikamenten im Falle der Demenz (mit ‚subjektiven Wirklichkeiten‘) angemessen erscheint. Die Autorin empfiehlt, es mit Erklärungen, Verständnis, sozialer Einbeziehung und validierenden Interventionen zu versuchen. Pflegende sollten sich bemühen, subjektive Wirklichkeiten aus den kognitiven Defiziten heraus zu verstehen.

Quelle: Cohen-Mansfield, J., Golander, H., Cohen, R. (2017). Rethinking Psychosis in Dementia: An Analysis of Antecedents and Explanations. American Journal of Alzheimer’s Disease & Other Dementias, 32(5), 265-271


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