Pflege und Migration

-Auf die Schnelle-

Einführung

In den letzten Jahren ist die Zahl Pflegebedürftiger deutlich auf rund 4 Millionen gestiegen. (1) Hierunter befinden sich zunehmend Menschen mit Migrationshintergrund, deren erste Sprache nicht Deutsch ist.

Das Sozialsystem insgesamt und damit die Pflegedienste und Pflegeeinrichtungen stellt dies vor besondere Herausforderungen. In der (Altenpflege-)Pflegeausbildung wird seit einiger Zeit auf eine „Kultursensible Altenpflege“ eingegangen. (2)

Die meisten Pflegebedürftiger (mit Migrationshintergrund) werden jedoch nicht stationär sondern in der „Häuslichkeit“ gepflegt. Hierzu empfehle ich den Beitrag meines Kollegen Detlef Rüsing (3):

Wie hoch der Anteil an Zuwanderung in Deutschland ist zeigen aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamts Destatis: Von 83,2 Millionen haben rund 21,9 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund. (4) Das Bundesamt definiert dies folgendermaßen:

Insgesamt umfasst die Bevölkerung mit Migrations­hintergrund alle Personen, die entweder selbst nicht mit deutscher Staatsan­gehörigkeit geboren sind oder bei denen mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsan­gehörigkeit geboren ist… Hierzu gehören Ausländer­innen und Ausländer, (Spät-) Aussiedler­innen und Aussiedler, Eingebürgerte, Personen, die die deutsche Staats­angehörigkeit durch Adoption erhalten haben sowie die mit deutscher Staats­angehörigkeit geborenen Kinder dieser vier Gruppen.“

s.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/03/PD22_N011_12.html;jsessionid=1123F812F256962BEDB35DDD1A7B38E8.live741

Keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen wiederum rund 10,6 Millionen Menschen mit Wohnsitz in Deutschland.

Menschen mit Migrationshintergrund werden im Durchschnitt zehn Jahre früher pflegebedürftig. (4) Das Durchschnittsalter von Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund liegt bei rund 62,1 Jahren, in der Gesamtbevölkerung bei rund 72,2 Jahren. Dies könnte laut der Soziologin Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin: „auf eine dauerhafte und belastende Berufstätigkeit in Verbindung mit einem höheren Risiko der krankheitsbedingten, vorzeitigen Erwerbsminderung zurückzuführen sein.“ (5)

Die Dissertation und begleitende Studie von Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin: „Stärkung der Selbstmanagement-Kompetenzen pflegender Angehöriger türkeistämmiger Menschen mit Demenz“ (2018) (6) zeigt Zusammenhänge von häuslicher Pflege, Fremdheit, Belastung und geringer Inanspruchnahme von pflegerischen Leistungen, etwa durch Pflegedienste auf.

In unterschiedlichen Settings werden meist nahen Angehörige oftmals von Frauen alleine gepflegt. Pflegenden Angehörigen leiden teilweise stark unter der Tabuisierung der Demenz-Erkrankung, der Isolierung von ihrem sozialen Umfeld und der Erschöpfung durch mangelnde Entlastung.

Diese Erkenntnisse bieten keinen vollständigen Überblick über die Bedürfnisse der Pflege von Menschen im Alter mit Migrationshintergrund, verdeutlichen jedoch die wachsenden Herausforderungen für das Sozialsystem und die Gesellschaft.

Folgende Punkte sind laut Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin zentral:

Es handelt sich bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund um eine heterogene Bevölkerung mit ebenso heterogenen Bedürfnissen (Dibelius et al. 2016; Schimany et al. 2012). Der Wunsch, im eigenen Zuhause gepflegt zu werden, ist groß (Infratest 2011; Kohls 2012, 2015). Die Inanspruchnahme professioneller pflegerischer Unterstützung im ambulanten, teilstationären und stationären Bereich ist gering (Okken et al. 2008; Volkertund Risch 2017). Es existieren vielfältige Barrieren bei der Inanspruchnahme pflegerischer Unterstützung, die in sprachlichen Kompetenzen, einer unterschiedlichen Wahrnehmung von Pflegebedürftigkeit, fehlendem Wissen zum Pflegesystem sowie Diskriminierungserfahrungen und Angst vor Institutionen begründet sind (Piechotta-Henze und Matter 2008; Thiel 2013; Glodny und Yilmaz-Aslan 2014)

S. 58 ff. „Kulturelle Diversität in der Pflege – Bedeutung einer diversitätssensiblen Pflege für die Vermeidungfreiheitsentziehender Maßnahmen“ Hürrem Tezcan-Güntekin in „Migration in der Pflege. Wie Diversität und Individualisierung die Pflege verändern.“ M. Bonacker, G. Geiger, Springer Verlag 2021
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61936-0

Die Informationslage über die Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt in Deutschland ist, wie auch das RKI feststellt, unzureichend: „Oft fehlen detaillierte Informationen, beispielsweise für verschiedene Herkunftsländer oder Altersgruppen.“ (7)

Zur weiteren Annäherung an das Thema Migration und der Pflegearbeit lohnt ein Blick auf die Geschichte der Migrationsbewegungen der Bundesrepublik und seiner Nachbarstaaten. Einen guten Überblick bietet hier eine Reportage der Reihe „Mit offenen Karten: MIGRATION Eine lange Geschichte“ (F 2019; Datenbasis mit Großbritannien als Teil der EU) (8)

Hintergrund

Seit der Gründung 1949 ist die Bundesrepublik das Ziel unterschiedlicher Einwanderungsbewegungen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges flohen allein rund 14 Millionen Menschen aus dem ehemaligen Ostgebieten vor allem in das sowjetisch besetzte Gebiet, die spätere DDR, sowie den amerikanischen und britischen Sektor. Gleichzeitig wanderten bis 1961 knapp 800.000 Deutsche in Richtung USA, Südamerika und andere Gebiete aus.

Ab 1955 wurden Anwerbeabkommen mit Italien, dann mit Spanien und Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal und Tunesien und Jugoslawien geschlossen. Nach der schweren weltweiten Wirtschaftskrise in Folge der ersten Ölkrise 1973 wurde ein Anwerbestopp verhängt. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits über 2,6 Millionen Gastarbeiter*Innen beschäftigt.

Zur gleichen Zeit, in der die Bundesrepublik die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer beendete, begann die DDR mit befreundeten ’sozialistischen Bruderstaaten‘ Verträge über die Sendung von Arbeitskräften zu schließen. Hauptherkunftsländer der vorwiegend männlichen Vertragsarbeiter waren Kuba, Mosambik und Vietnam. Ihre Zahl stieg von durchschnittlich rund 11.000 zu Beginn der 1980er Jahr auf 190.000 ausländische Beschäftigte in der DDR im Jahr 1989. (9)

Seit den 80er Jahren kam es in Westdeutschland zu einer zunehmenden Einwanderung vieler „(Spät-)Aussiedler“, also Zuwanderer mit deutschen Vorfahren ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Die meisten (Spät-)Aussiedler kommen aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, wie Russland und Kasachstan, außerdem aus Polen und Rumänien. Höhepunkt der Zuwanderung waren hier die Jahre 1989/90. Das Bundesverwaltungsamt schätzt die Zahl von (Spät-) Aussiedlern auf mindestens 2,5 Millionen. (10) Aus der den ehemaligen Staaten der Sowjetunion und Russland wanderten zudem mindestens rund 100.000 Personen als sogenannte „jüdische Kontigentflüchtlinge“ nach Deutschland ein. (11)

In den 90er Jahren kam es zu einer Zuwanderung von Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien und weiteren Balkan-Staaten in Folge der Jugoslawien-Kriege (1991 bis 2001). Einen deutlichen Anstieg der Zuwanderung nach Deutschland setzte außerdem in Folge des Afghanischen Bürgerkrieges (seit 1978; verstärkt durch den Abzug der sowjetischen Truppen 1989), des Bürgerkriegs in Syrien (seit 2011) und des Bürgerkriegs im Yemen (seit 2014) und weiterer Konflikte und Hungerkrisen ein. (12)

Diese Migrationsbewegungen führten zu der sogenannten „Flüchtlingskrise in Deutschland 2015/2016“ 2015 erfolgte die Erstregistrierung von rund 890.000 Schutzsuchenden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF); die Zahlen sanken wiederum stark nach Flüchtlings-Vereinbarungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union 2016. (13)


Ausblick

Die deutsche Gesellschaft und damit die Pflege untersteht durch Zu- und Abwanderung einem stetigen Wandel, der sich gleichzeitig zu dem Demografischen Wandel, also einer Alterung der Gesellschaft mit veränderten Pflegebarfen vollzieht.

Am 1. März 2020 ist das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Deutschland in Kraft getreten. (14) Zu den Zielen gehört eine gezielte Zuwanderung von Fachkräften nach den Erfordernissen der Wirtschaft. Nach dem Gesetz gilt als Fachkraft, wer über eine deutsche Anerkennung seiner beruflichen oder akademischen Qualifikation verfügt. Die Einwanderungsmöglichkeiten von Fachkräften aus Drittstaaten sind damit an die Anerkennung der vorhandenen Berufsqualifikationen gebunden.

Auch die Pflegebranche möchte die nun geschaffenen Möglichkeiten einer verstärkten Einwanderung von Fachkräften nutzen. (15) Hierzu warb der ehemalige Gesundheitsminister Spahn 2019 etwa im Kosovo. (16)

Die massiven Migrationsbewegungen durch den Angriff Russlands auf die Ukraine stellt Deutschland und das Sozialsystem vor enorme weitere Herausforderungen.

Laut dem Migrationsforscher Gerald Knaus könnten durch den aktuellen Krieg in der Ukraine dauerhaft über 10 Millionen Menschen aus der Ukraine vertrieben werden. Dies könnte in Europa zur größte Flüchtlingswelle seit 1945, also dem Ende des Zweiten Weltkriegs führen. (17)

Welche Konsequenzen dies für die Sozialsysteme und die Betreuung von Menschen im Alter haben könnte ist noch nicht absehbar.


Quellen/Literatur

1 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/_inhalt.html (Stand Ende 2021)

2 https://www.bmfsfj.de/resource/blob/79104/319309a6d08b82b1d933d87f9fc7bb0d/handbuch-modul2-data.pdf (Handbuch für eine kultursensible Altenpflegeausbildung. Stand 2005)

3 https://www.dzla.de/zu-hause-ist-nicht-gleich-zu-hause/ (13.06.2020)

4 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/_inhalt.html

4 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Pflege/Berichte/Abschlussbericht_zur_Studie_Wirkungen_des_Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes.pdf (Bundesministerium für Gesundheit (2011): Daten aus der Studie zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz. TNS Infratest Spezialforschung.)

5 https://www.aerzteblatt.de/archiv/172279/Pflege-von-Menschen-mit-Migrationshintergrund-Spezifische-Beduerfnisse-erkennen

https://www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/Alz/pdf/2019_12_02_Fachtagung_Demenz_und_Migration_Vortrag_Tezcan.pdf (Vortrag auf der „Fachtagung Demenz und Migration“ Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. 02.12.2019, Berlin)

6 https://noah.nrw/ubbihs/content/titleinfo/5138396 „Stärkung der Selbstmanagement-Kompetenzen pflegender Angehöriger türkeistämmiger Menschen mit Demenz“ 2018, Disseration an der Universität Bielefeld, Hürrem Tezcan-Güntekin

7 https://www.rki.de/DE/Content/GesundAZ/M/Migration_Gesundheit/Migration_Gesundheit_node.html

8 https://youtu.be/_-7d9s1eYRQ TV- Magazin (ARTE, F 2019, 12 Min)

9 https://www.bpb.de/themen/migration-integration/dossier-migration/252241/geschichte-der-migration-in-deutschland/ Dossier von M.Berlinghoff, 2018

10 https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61643/spaet-aussiedler/

11 https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/252561/juedische-kontingentfluechtlinge-und-russlanddeutsche/

12 https://ourworldindata.org/war-and-peace

13 https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2016/09/asylsuchende-2015.html

14 https://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2020/20200301-am-fachkraefteeinwanderungsgesetz.html

15 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/100267/Private-Pflegedienste-hoffen-auf-ein-Einwanderungsgesetz

16 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2019/kosovo-abkommen.html

17 Artikel in „Neue Osnabrücker Zeitung“ (NOZ) 15.03.2022 https://www.presseportal.de/pm/58964/5170724

https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/210999/migration-und-pflege/

„Kulturelle Diversität in der Pflege – Bedeutung einer diversitätssensiblen Pflege für die Vermeidung
freiheitsentziehender Maßnahmen“ Hürrem Tezcan-Güntekin in „Migration in der Pflege. Wie Diversität und Individualisierung die Pflege verändern.“ M. Bonacker, G. Geiger, Springer Verlag 2021
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61936-0

„Die Pflege älterer Menschen mit Migrationshintergrund“ Hürrem Tezcan-Güntekin, Jürgen Breckenkamp, GGW-Journal Jg. 17 Heft 2 (April) 15-23, 2017 https://www.wido.de/fileadmin/Dateien/Dokumente/Publikationen_Produkte/GGW/wido_ggw_0217_tezcan-guentekin_breckenkamp.pdf

https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/demografischer-wandel/


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Nils Hensel

Dialogzentrum Leben im Alter (DZLA)


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