
-Was würde die Person mit Demenz wollen, wenn es zuende geht? Eine Kontroverse. –
Susan Merel und Barak Gaster (2020) eröffnen die Diskussion mit folgendem Beitrag:
Was würde die Person mit Demenz wollen, wenn es zu Ende geht? Fehlen entsprechende Dokumente, dann versuchen Ärzte und Pflegende zusammen mit Angehörigen zu ergründen, was wohl der mutmaßliche Wille sein könnte. Was dann zumeist fehlt: ein zuverlässiger Hinweis, der auf den Umstand passt, noch viele Jahre mit schwindenden kognitiven Funktionen und zunehmender Schwäche zu leben. Auch Angehörige erfahren sich hierbei häufig überfordert, da sie in der Regel Entscheidungen für einen Verwandten mit Aussicht auf ein langes Leben bei sehr reduziertem Funktionsniveau nicht mit der Person mit Demenz vorbedacht haben. Der eher prolongierte Prozess des Niedergangs trägt dazu bei, den richtigen Zeitpunkt für ein solches Gespräch zu verpassen. Ein Rückgriff auf eine präzise Erklärung des Patienten wäre dann für alle Beteiligten hilfreich.
Ohne eine solche Erklärung erfolgt u.U. notfallmäßig eine Krankenhauseinweisung mit anschließender Maximalbehandlung und vielen ungewollten, problematischen Folgen (Wiederbelebung, Delir, Translokationssyndrom, Magensonde, Institutionalisierung). Patienten mit Demenz, die einer palliativen oder Hospiz-Behandlung zugeführt werden, erfahren dagegen besseres Symptommanagement, eine enge Begleitung und genaue Berücksichtigung von Präferenzen. Viele Patienten würden davon profitieren, wenn entsprechende Erklärungen vorlägen.
Eine auf die klinische Praxis passende Erklärung sollte aber in gemeinsamen Beratungen mit einer fachlich versierten Person erfolgen, welche mit den etablierten Behandlungspfaden und Optionen vertraut ist. Die frei verfügbaren Druckvorlagen reichen hier bei weitem nicht aus. Es sei notwendig, entlang den Stufen der Demenzentwicklung und den damit gegebenen Symptomen und Herausforderungen mögliche gesundheitliche Risiken und damit einhergehende klinische Szenarien abzuwägen. Für jede mögliche Situation wird zusammen entschieden, für welche Option der Klient optiert.
In englischer Sprache ist ein entsprechender Leitfaden entwickelt worden: https://dementia-directive.org.
Alle Informationen zum Thema Patientenverfügung: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/patientenverfuegung.html
Zwar ist es unmöglich, alle möglichen Details umfassend vorwegzunehmen, aber darum geht es nicht: jede Erklärung muss auf dem aktuellen Hintergrund neu interpretiert werden. Wohl aber stellt ein solches Dokument eine Grundlage dar, den Bevollmächtigten (Vorsorgevollmacht) und Behandlern einen qualifizierteren Hinweis auf den mutmaßlichen Willen zu geben und ihre Entscheidung zu erleichtern. Unbestritten bleibt, dass die Benennung eines Bevollmächtigten (Vorsorgevollmacht) neben der Erklärung (Patientenverfügung) die wichtigste Regelung in diesem Themenfeld darstellt.
Sulmasy (2020) nimmt dazu kritisch Stellung: Patientenverfügungen werden zumeist nicht gut an- und wahrgenommen, erweisen sich in den konkreten klinischen Grenzsituationen als wenig hilfreich und lösen die schwierigen ethischen Fragen nicht. Sehr viel besser sei es, einen benannten Bevollmächtigten an der Seite des Arztes zu haben.
Eine demenzspezifische Form der Patientenverfügung werfe die Frage auf, für welche Erkrankungen dennoch eine spezifische Erklärung notwendig sei und welche dieser man denn in kritischen Grenzsituationen nutzen solle – die für die Demenz oder die für die zugleich vorliegende Krebserkrankung? (Noch) Entscheidungsfähige Personen können sich Demenz und die fortgeschrittenen Phasen schwerlich vorstellen; erst recht nicht, dass es einem in diesen Phasen möglicherweise nicht sehr viel schlechter gehe als zuvor auch. ‚Vorauseilende Autonomie‘ (‚precedent autonomy‘) setze voraus, dass im Hier und Jetzt vorausgedacht werden könne, wie sich ein späterer dementieller Zustand anfühlt und ausprägt: welches Recht hat die Person, sich das (Überlebens) Recht in einem zukünftigen, kaum vorhersehbaren Zustand abzusprechen? So wird man zur Geisel früherer Erklärungen. Eine Verfügung, keine Antibiotika bei fortgeschrittener Demenz einzusetzen, sollte nicht beachtet werden, wenn eine ansonsten recht zufriedene Dame mit Demenz eine Blasenentzündung erleidet.
Sehr viel besser sei es, mit einem mit der Person wohl vertrauten Bevollmächtigten die aktuelle Situation in Hinblick auf das Leben und die Werte dieser Person zu erörtern und eine gemeinsame Entscheidung zu fällen.
Dazu beziehen die Autoren Merel und Gaster (2020_2) erneut Stellung: Sie stimmen Sulmasy dahingehend zu, dass die Benennung eines Bevollmächtigten die wichtigste Art der Vorsorge darstelle. Sie geben aber zu bedenken: wie sollen die Bevollmächtigten denn entscheiden, auf welcher Grundlage – ihrer Intuition, aufgrund diverser halb erinnerter Randbemerkungen in Dialogen, oder doch eher auf der Grundlage einer schriftlichen Einlassung zum Thema? Demenz sei in der Hinsicht einzigartig, als dass die Entscheidungsfähigkeit mitunter schon im frühen Krankheitsstadium erheblich eingeschränkt sein kann. Sie empfehlen, derartige Patientenverfügungen (Beachte: Unterschied zu Regelungen in Deutschland) nicht als rechtlich verbindlich zu betrachten, sondern eher als Kommunikationshilfe, die Einsicht in Präferenzen und Wünsche erlaubt. Zudem sei nicht schlüssig, warum eine frühere Willenserklärung nicht für einen späteren Zeitpunkt soll gelten können: dies sei ja bei allen schriftlich niedergelegten Willenserklärungen der Fall, so dass die Demenz kein Sonderfall darstelle.
Hierzu stellt Sulmasy (2020_2) abschließend fest: Es lägen bislang keine Evidenzen dafür vor, dass demenzspezifische Patientenverfügungen die Pflege und Versorgung verbessern. Nur 15% der Patienten wollten, dass eine Patientenverfügung die einzige und dominierende Entscheidungsgrundlage darstelle. Die meisten würden es bevorzugen, dass Angehörige und der behandelnde Arzt zusammen eine Entscheidung im besten Interesse des Patienten träfen. Eine Patientenverfügung erwecke den Schein von Entscheidungssicherheit, den es aber eigentlich gar nicht gebe.
Eigene Stellungnahme:
Sulmasy grenzt sich von der Position Merels mehr ab als nötig. Man ist sich darin einig, derartige Verfügungen nicht letztentscheidend zu betrachten, Merel und Gaster betrachten sie als Kommunikationsinstrument, das unter anderem zum Zuge kommt. Zudem ist die Vermutung Sulmasys, dass Angehörige wüssten, was im besten Interesse ihrer ‚Lieben‘ sei, angreifbar: es ist wohl bekannt, dass sich die Einschätzungen zur Lebensqualität von Personen mit Demenz und deren Angehörigen mit zunehmender Demenz immer weniger decken (‚disability/ discernability paradox‘) und Personen mit Demenz die eigene Lebensqualität idR als positiver einschätzen als Angehörige. Auch kann ein guter Wille nicht immer unterstellt werden, besonders in dysfunktionalen Familien mit chronischen Gewaltbeziehungen. Zuletzt: immer mehr Menschen mit Demenz leben allein, sind verwitwet, weisen nur entfernte Verwandte auf, die kaum etwas über die Person wissen. Hier wäre es schon hilfreich, eine Patientenverfügung heranziehen zu können.
Um dies zuzuspitzen: Sulmasy befürchtet, man werde zur Geisel einer längst vergangenen und u.U. nun irrelevanten Verfügung. Gegen Sulmasy kann befürchtet werden, dass über Personen mit Demenz eher nach dem Befinden und Urteil der u.U. wenig kenntnisreichen Angehörigen entschieden wird als dem mutmaßlichen Willen der Person. Es sind dann die Toleranzgrade und Wertungen der Angehörigen, die entscheidend sind. Insofern spricht alles für die Position von Merel und Gaster: Bevollmächtigte entscheiden zusammen mit Gesundheitsarbeitern auf der Grundlage von rechtlich nicht zwingend bindenden Patientenverfügungen.
Bitte beachten Sie den Link zu den in Deutschland geltenden Regelungen, die verbindlicher ausfallen als von den Autoren dieser Kontroverse empfohlen.
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Christian Müller-Hergl
Dialogzentrum Leben im Alter (DZLA)
Literatur:
Merel, S., Gaster, B.(2020). Advance Directives for Dementia Can Elicit Preferences to Improve Patient Care. Journal of the American Geriatrics Society, 68, 1606-1608
https://agsjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/jgs.16492
Sulmasy, D. (2020). Why Dementia-Specific Advance Directives Are a Misguided Idea. Journal of the American Geriatrics Society, 68, 1603-1605
Merel, S., Gaster, B. (2020_2). Response to Dr. Sulmasy. Journal of the American Geriatrics Society, 68, 1611
Sulmasy, D. (2020_2). We need more wisdom, not more paper: a reply to Merel and Gaster. Journal of the American Geriatrics Society, 68, 1609-1610