Rehabilitation

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– Kritisches Glossar-

Professionelle der Rehabilitation sehen Menschen mit Demenz nicht als ihre Aufgabe

Forschung, Richtlinien und die WHO empfehlen, dass Menschen mit Demenz so lange wie möglich in eigener Häuslichkeit verbleiben und deswegen auch an Rehabilitationsmaßnahmen teilnehmen und relative Unabhängigkeit erhalten sollten. Hier stehen kognitive und physische Rehabilitation im Vordergrund, gefolgt von Lebensqualität, Unterstützung bei der Anpassung an veränderte Bedingungen und Ähnliches mehr. Ziel dieser Interventionen ist es, den Krankheitsfortschritt zu verlangsamen und die Anpassung an die Krankheit zu verbessern.

Allerdings sind Reha-Programme nicht ohne weiteres zugänglich für Menschen mit Demenz – im Unterschied zu anderen neurologischen Beeinträchtigungen wie Apoplex oder Multiple Sklerose.  Vorliegende Studie aus Australien befragt Professionelle aus unterschiedlichen Reha-Berufen, wie Reha-Maßnahmen für Menschen mit Demenz eingeschätzt werden.

Methoden:

Erfahrene Professionelle, darunter Geriater, Neurologen, Neuropsychologen, Rehabilitationsmediziner. Pflegekräfte, Physio- und Ergotherapeuten werden halb-strukturiert befragt. Beschrieben wird die Auswertung der Interviews.

Resultate:

16 Personen konnten befragt werden. Insgesamt positionieren sich die Befragten vorsichtig bis ablehnend zum Thema Rehabilitation für Menschen mit Demenz. Die Ergebnisse werden in zwei Kapiteln vorgestellt.

Schwierigkeit, sinnvolle Therapieziele zu definieren

In der Reha müsse man klare, erreichbare und quantifizierbare Ziele haben. Könne man diese nicht formulieren, so untergrabe den Wert des Programms. Teilnehmende denken hierbei in erster Linie an weit fortgeschrittene Zustandsbilder. Wenn überhaupt, dann seien es eher jüngere Patienten mit milden Symptomen, die von einer Reha profitieren könnten. Insgesamt fällt der therapeutische Optimismus gering aus.

Demenz gehöre eher zum palliativen und weniger zum rehabilitativen Aufgabenkreis. Dass Forschung, Richtlinien, Selbsthilfe- und Angehörigengruppen Reha-Maßnahmen für Menschen mit Demenz einfordern, war den Befragten nicht bewusst. Nur einige wenige Befragten konnten in der Hilfe zur Anpassung an die Erkrankung, z.B. bei der Ernährung oder Mobilität, rehabilitative und palliative Ziele zusammendenken.

Anstelle von Rehabilitation sei für Menschen mit Demenz eher etwas wie ‚Wiederbefähigung‘ (Re-Enablement) zu denken, schon um keine falschen Erwartungen bei Patienten und Angehörigen zu wecken. Insgesamt verbinden Kliniker mit Reha-Maßnahmen klare physische (kann wieder gehen) oder kognitive (kann wieder sprechen) Zielvorstellungen.

Barrieren für die Teilnahme

Die Befragten bezweifelten mehrheitlich, dass Menschen mit Demenz an einem intensiven Programm teilnehmen, sich die Aufgaben merken und umsetzen könnten. Ohne Einsicht in die eigene Erkrankung sei dies schon gar nicht möglich. Die Intensität und Beanspruchung dieser Programme in einer traditionellen Reha-Umgebung passten nicht zu Menschen mit Demenz. Wenn überhaupt, dann benötige man ein ganz eigenes Design mit besonderen Spezialisten, sehr viel mehr Zeit und kleinschrittigen Zielen und weniger intensiven Anwendungen. Pflegende in Reha-Abteilungen reagierten eher skeptisch bis ablehnend auf Patienten mit Demenz, bei denen sie mit Problemen bei Verhalten, Körperpflege und Medikamenteneinnahme rechnen und einen vergleichsweisen höheren Arbeitsaufwand befürchten. Dafür habe man nicht die notwendige Personalausstattung.  Ohne intensive Einbeziehung der pflegenden Angehörigen in die Schulungsprogramme ginge das nicht – mit der Folge, dass alleinlebende Personen mit Demenz kaum von Reha-Maßnahmen profitieren könnten.  Die unvorhersehbare Natur und Verlauf der Demenzerkrankung stelle eine weitere Hürde dar.

Diskussion:

Insgesamt sehen Professionelle der Rehabilitation Menschen mit Demenz nicht als zu ihrem Arbeitsbereich gehörig. Reha-Maßnahmen seinen rationiert und für Menschen mit Demenz bestehe eine vergleichsweise geringere Priorität sowie schlechtere Voraussetzungen für einen Erfolg. Über anderslautende Forschungsresultate zeigten sich die Professionellen weitgehend uninformiert. Einer der Gründe ist vermutlich, dass sich Angehörige der Rehabilitationsmedizin von dieser Disziplin eben deswegen angezogen fühlen, weil sie hier messbare Erfolge zeitigen können. Menschen mit Demenz erscheinen ihnen als inkompatibel mit ihrem beruflichen Ethos. Zudem haben sie zumeist weit fortgeschrittene Zustandsbilder vor Augen und denken weniger an die Mehrheit von Menschen mit Demenz, die mit moderater Demenz in eigener Häuslichkeit leben. Insgesamt identifizieren Mitarbeiter der Reha – tendenziell stigmatisierend – Demenz mit vollständiger Gebrechlichkeit. Wenn überhaupt, dann müsste eine Reha für Menschen mit Demenz auf ganz anderen Grundlagen aufgebaut werden als die übliche geriatrische Rehabilitation. Eben dies, Reha neu für Menschen mit Demenz denken und entwickeln, bildet die abschließende Empfehlung der Autoren.   

Krankheiten sind unterschiedlich attraktiv oder ihnen wird unterschiedliches ‚Prestige‘ zugewiesen. In der Regel sind Krankheiten und die damit verbundenen Arbeiten für Ärzte attraktiv, wenn es sich 1. um potentiell tödliche, akute Erkrankungen mit einer klaren Diagnose handelt (am besten: Kopf oder Herz), wenn 2. ihre Behandlung mit dem riskanten Einsatz von Hochtechnologie verbunden ist, wenn es sich 3. um vergleichsweise junge Patienten handelt, die sich den Behandelnden und ihrer Denkweise fügen und bei denen die Behandlungen nicht mit Entstellungen und anschließenden schweren Belastungen einhergehen. Hohes Prestige kommt daher der Behandlung von Leukämie, Hirntumoren und Herzinfarkten zu, besonders niedriges Prestige ist verbunden mit Angsterkrankungen, Depressionen, Anorexia und Fibromyalgie. Vorliegende Untersuchung bei norwegischen Krankenpflegern*innen kommt zu dem Ergebnis, dass professionell Pflegende diese Einschätzungen fast 1:1 teilen. Die Pflege psychisch kranker (alter?) Menschen ist demnach für Ärzte und Pflegende mit niedrigem Prestige verbunden und damit vergleichsweise unattraktiv. Alles, was mit Heilung (cure) verbunden – objektiv, kritisch, behandelbar –  ist attraktiver als alles, was mit Pflege (care) einhergeht. Die Autoren bieten an, dies mit der ‚Medizinalisierung‘ der Pflege zu erklären: man orientiert sich an den Wertungen der dominanten Profession im Gesundheitswesen. Eine eigene Perspektive scheinen professionell Pflegende weniger ausgebildet zu haben. Die Autoren diskutieren die möglicherweise gravierenden Folgen prestigeträchtiger Krankheiten für den Pflegeberuf. 

Die US-amerikanische Studie beschreibt die Wirkungen einer Intervention für Menschen mit Demenz und pflegende Angehörige, die aus mehreren Komponenten besteht und von Mitarbeitern regionaler Agenturen für das Altern umgesetzt wurden. (Reducing Disability in Alzheimer’s Disease:RDAD) Die Intervention wendet sich an Personen, die zusammen mit Angehörigen in eigener Häuslichkeit leben. Einem Interventionshandbuch genau folgend werden die Teilnehmenden (beide) an sportliche Übungen herangeführt, lernen Demenz besser zu verstehen, arbeiten daran, erfreuliche Ereignisse und Situationen zu vermehren, suchen gemeinsam nach möglichen Auslösern für Verhaltens-, Interaktions- und Kommunikationsprobleme.

255 Personen mit Demenz und deren Angehörige nahmen an dem 6-wöchigem Programm teil, dessen Wirkung anschließend mehrfach überprüft wurde (letzte Überprüfung nach 13 Monaten). Die physische Aktivität stieg deutlich an und blieb hoch. Männliche Teilnehmende profitierten davon weniger als weibliche. Die Lebensqualität stieg deutlich an und Depressivität sank erheblich: beide Effekte verschwanden aber mit der Zeit und konnten nach 13 Monaten nicht mehr festgestellt werden. Klare Zielsetzungen, intensive Unterstützung aus einer Quelle, der man vertraut, genaue Einhaltung der Vorgaben des Interventionshandbuches sowie eine gründliche Vorbereitung und Schulung der Coaches gelten als Garanten für den Erfolg des Programms. Die Coaches erwiesen sich als erfolgreicher, wenn sie von ihrer Organisation bei der Umsetzung stark unterstützt wurden.

Die Autoren ziehen den Schluss: es ist möglich und vielversprechend, Menschen mit Demenz und deren Angehörige im ambulanten Setting intensiv zu begleiten, gemeinsam ein möglichst gutes und gesundes Leben zu führen und Risikofaktoren zu vermeiden bzw. zu verringern (sekundäre Prävention).

Quellen/Literatur:

Cations, M. May, N. et al. (2020). Health professional perspectives on rehabilitation for people with dementia. The Gerontologist, 60(3), 503-512

Vgl.: Johannessen, L., Album, D., Rasmussen, E. (2020). Do nurses rate diseases according to prestige? A survey study. Journal of Advanced Nursing, 76, 1691-1697

Vgl.: Teri, L., Logsdon, R. et al. (2020). Translating an evidenced-based multicomponent intervention for older adults with dementia and caregivers. The Gerontologist, 60(3), 548-557


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Christian Müller-Hergl

Dialogzentrum Leben im Alter (DZLA)

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