
-Kritisches Glossar-
Hintergrund:
Über Pflege als emotionale Arbeit ist viel veröffentlicht worden: doch wie Pflegende Ekelgefühle konkret erleben und damit zurechtkommen, dies ist bislang empirisch wenig beforscht. Beim Ekel handelt es sich um ein mächtiges basales Gefühl, dem wir nur unter Mühen entrinnen, das uns aber zumeist eher überwältigt und starke körperliche, kognitive und verhaltensbezogenen Folgen zeitigt. Ekel ist eng verbunden mit Schmutz und körperlichen Ausscheidungen, stellt einerseits eine evolutionsbedingte Schutzreaktion vor Ansteckung und Tod dar. Ursprünglich bedingt Ekel insbesondere den Impuls, Fremdkörper aus dem Mundraum zu entfernen. Ekel hat viel mit dem Mundraum, dem Geruch und dem Akt des Ausspeiens zu tun. Andererseits wird Ekel auch gelernt und ist abhängig von der jeweiligen Kultur: unerwünschte Verhaltensweisen (was sich nicht gehört) werden früh mit Vermeidung und Abwertung in Verbindung gebracht (emotionale Konditionierung), die eng an das Ekelgefühl gekoppelt sind. Hier werden Verhaltensweisen und die Personen, die das tun, quasi ‚ausgespuckt‘. Ekel steht also in enger Verbindung mit Ärger, Verachtung und mangelnder Empathie. So können Menschen aufgrund von Fehlverhalten als widerlich, abstoßend betrachtet und damit de-humanisiert werden. Dies wiederum bildet dann die Basis diverser Akte der Verletzung, Gewalt und am Ende auch Vernichtung.
Gesundheitsarbeiter haben ex officio mit ekeligen Themen zu tun und müssen einen Weg finden, ihre natürlich und kulturell bedingten Reaktionen auf starke Gefühle in Schach zu halten. Gefühle bzw. die damit einhergehenden Verhaltensweisen müssen also unterdrückt, kontrolliert, moduliert werden, so dass möglichst nichts davon nach außen sichtbar wird. Erfolgt dies über längere Zeit, kann dies zum Burnout, zur Erschöpfung des Mitgefühls, zum Verlust von Abgrenzungen führen, so dass sich die Person selbst beschmutzt, ekelig oder minderwertig fühlt (De-Personalisierung) oder/und sich Patienten gegenüber distanzlos bis gewaltbereit zeigt (um sich abzugrenzen oder gegen zu bemächtigen). ‚Schmutzarbeiter‘ kämpfen mit dem ‚sekundären Stigma‘ (Milne)[1], nach dem Menschen, die Schmutz beseitigen, als minderwertig betrachtet werden. Patienten werden dann mit Tieren verglichen, als Hunde und Ratten bezeichnet (so berichtet aus der forensischen Psychiatrie). Dieser ‚Abwärtsvergleich‘ dient dazu, die Beschmutzung abzuwehren bzw. zurückzugeben, Distanz wiederaufzurichten und das eigene Selbstwertgefühl zu erhalten. – Vorliegende Studie aus England geht der Frage nach, in welchem Ausmaß Pflegende mit Ekelgefühlen konfrontiert sind und wie sie mit diesem Gefühl umgehen.
Methoden:
Es handelt sich um eine systematische Literaturstudie. Beschrieben werden die Gewinnung und Bewertung der Literatur.
Resultate:
11 qualitative und quantitative Studien können herangezogen werden. Die Ergebnisse werden in drei Kapiteln vorgestellt.
Die Mühen der Professionellen, über Ekel zu reden
Offen über konkret erlebten Ekel zu reden ist zumeist tabu. Eher stoisch nimmt man die ‚Schmutzarbeit‘ hin und schweigt. Über den empfundenen Ekel nicht zu reden gilt dabei als Ausweis der Professionalität. Obgleich ‚Schmutzarbeit‘ einen gewichtigen Teil der Arbeit darstellt, redet man eher wenig oder verklausuliert darüber. Man spricht eher über ‚schwierige‘ oder ‚herausfordernde‘ Situationen und verbirgt den Ekelcharakter damit, macht ihn unsichtbar. Dieses Schweigen kann auch den Charakter haben, dass es einem die Sprache verschlägt, dass das Entsetzliche, das man wahrnimmt, nur als unbeschreibbar beschrieben werden kann.[2]
Insgesamt scheint die persönliche Wahrnehmung der Pflegenden individuell sehr verschieden zu sein: zunehmendes Alter, Erfahrung und persönliche Nähe zu Klienten relativieren und mindern das Ekelempfinden. Der Preis für das Schweigen allerdings ist, nach einigen Studien, ein aufgesetzt mühsam höflicher, aber nicht authentischer Kontakt, der indirekt zum Burnout und zum Ausstieg beiträgt.
Grenzüberschreitung
Besonders der Geruch von Wunden, Stuhlgang und der Anblick von Erbrochenem (der Körper ‚bricht‘ unkontrolliert, form/gestaltos nach außen, Bsp.: Gesichtstumoren) haben die Kraft, gesetzte Grenzen zu überschreiten und auch etwas in der Pflegekraft zu ‚brechen‘. Letzteres muss aber verhindert werden, da Pflegende gehalten sind oder sich gehalten fühlen, den eigenen Ekel nicht unkontrolliert zu zeigen. Es bedarf also eines Managements, wobei eine bestimmte äußere ritualisierte Praxis hilft, die innere Kontrolle und die Professionalität zu wahren. Die Patienten werden eher in ihren Zimmern gehalten oder unter strengen Schutzvorschriften ‚versorgt‘: die Rituale dienen u.a. dazu, die ‚Brüche‘ zu isolieren, zu kontrollieren und die Professionalität zu erhalten. Diese äußere, räumliche Separierung kann als Ausdruck der inneren bzw. mentalen Separierung verstanden werden. Diese Ritualisierung des ‚Grenzmanagements‘ zerbricht dann zuweilen im Kontext der Demenz, typischerweise bei sexuell übergriffigem Verhalten. Der ritualisierte Schutz (Dienstkleidung, Schutzkleidung, Handschuhe, standardisierte Prozeduren) greift nicht mehr und Pflegende fühlen sich schutzlos und nackt. Manchmal hilft dann noch Ablenkung, Ignorieren, Dissoziation (so tun als wäre nichts geschehen).
Die Bedeutung der Empathie
Das Bemühen, in die Schuhe des Patienten zu schlüpfen und ganzheitlich zu pflegen könnte man als einen Versuch begreifen, die eigene Wahrnehmung und Empfindung umzupolen, zu ‚reframen‘. In einem bewussten oder angestrengten Versuch werden Ausscheidungen als gesund und normal beschrieben (‚Umkehrung‘?) und die geleistete Unterstützung als Würdearbeit gedeutet – um die Würde der Patienten und der Angehörigen zu wahren. Allerdings ist der Ekel oft mächtiger, durchschlagender, so dass man versucht, in als ekelig empfundenen Situationen schneller zu arbeiten, durch den Mund zu atmen, nicht länger als für die funktional bestimmte Tätigkeit unbedingt notwendig im Zimmer zu verweilen und sozioemotionale Arbeit auszulassen. Auch kommt es bei mit Ekel verbundenen Grenzüberschreitungen oft zu negativen Attributionen: der Patient macht dies angeblich absichtlich oder bösartig oder nur, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Dann fühlt man sich in seiner Würde verletzt und das Bedürfnis entsteht, sich zu ‚rächen‘, ein Bedürfnis, das dann zugleich wiederum mächtig unterdrückt werden muss.
In einigen Studien berichteten Pflegende, dass die persönliche Kenntnis des Patienten hilft. Sie unterscheiden zwischen bekanntem und unbekanntem Schmutz/Geruch. Bekannter Gestank ist erträglicher insbesondere dann, wenn die Patienten freundlich und ‚nett‘ erfahren werden. Empathie kann helfen, den Ekel zu überwinden, vermutlich aber nicht ohne schleichende Kosten: Dissoziation, Ignorieren, Nicht-Beachtung eigener Empfindungen.
Diskussion:
Pflegende sind menschlichen Grenzsituationen ausgesetzt, oft ohne gelernt zu haben, diese Grenzsituationen wahrzunehmen, zu beschreiben, auszutauschen. Sie schweigen darüber und versuchen, irgendwie damit zurecht zu kommen. Aus diesem Schweigen wird dann eine Art ‚Ehre‘ oder ‚Stolz‘: darüber nicht zu sprechen gilt aus Ausweis der Professionalität. Als ‚Gegenmittel‘ müht man sich um Empathie. Die Autoren ziehen ein Modell heran, um die Spannung zwischen Ekel und Empathie zu beschreiben. Anknüpfend an Gilbert [3] unterscheiden sie zwischen drei eng miteinander verbundenen Systemen der Affektregulation: das System Bedrohung/Schutz, das System Antrieb/Erregung und das System Sicherheit/Zufriedenheit. Ekel gehört zum System Bedrohung: ist dieses System aktiviert, dann wird zugleich das System Sicherheit deaktiviert und verhindert den Aufbau von Empathie. Gelingt es dagegen, das System Sicherheit und damit Empathie zu aktivieren, dann kann das Bedrohungssystem deaktiviert werden. Die Frage ist, ob es gelingt, das System Sicherheit/Zufriedenheit gut genug aufzubauen und zu erhalten. Empathie stellt eine Brücke dar, um Ekelgefühle zu kontrollieren und professionelle Zuwendung zu leisten. Allerdings: Ein Übermaß an Kontrolle (Schweigen) gefährdet auf die Dauer das Mitgefühl und höhlt die Empathie von innen aus. Ohne eine bewusst gelebte Praxis der Selbstpflege, zu der das Wahrnehmen, Bennen und Aussprechen gehört, kollabiert die Empathie auf lang oder kurz.
Es ist bislang wenig darüber bekannt, wie Menschen mit Demenz Inkontinenz erleben und diese Erfahrungen bewältigen. Eine kleine qualitative Studie mit 7 Teilnehmerinnen mit milder bis mittlerer Demenz aus England geht dieser Frage nach. Erwartbar gehen diese Erfahrungen mit Gefühlen von Peinlichkeit und Scham einher. Stuhlinkontinenz wird dabei als wesentlich gravierender bewertet. Inkontinenz wird besonders dann, wenn sie plötzlich eintritt, wie ein Eindringling empfunden, eine alles andere unterbrechende Erfahrung. Verschiedene Strategien werden genutzt: nur noch an solche Orte fahren, an denen es eine leicht erreichbare Toilette gibt, weniger trinken, um Nocturie zu vermeiden, diverse Schutz- und Auffangmöglichkeiten. (diverse Inko-Materialien). Die Hilfe von Professionellen wird gerne angenommen und die Erfahrungen mit Professionellen sind durchweg positiv. Im persönlichen Umfeld versucht man häufiger, Inkontinenz-Vorkommnisse zu verbergen, zu verschleiern, um es den Angehörigen zu ersparen, sich damit befassen zu müssen. Beides, Demenz und Inkontinenz sind potentiell stigmatisierend: hat man beides, dann unterliegt man möglicherweise eine doppelten Stigmatisierung.
Quellen/Literatur
[1] Milne, A. (2010). The ‘D’ word: Reflections on the relationship between stigma, discrimination and dementia. Journal of Mental Health, 19, 227–233.
[2] Kaiser, M., Kohlen, H., Caine, V. (2019). Explorations of disgust: A narrative inquiry into the experiences of nurses working in palliative care. Nursing Inquiry, 26:e12290, https://doi.org/10.1111/nin.12290
[3] Gilbert, P. (Ed.), 2005a. Compassion: Conceptualisations, Research and Use in Psychotherapy. Routledge, New York.
Hadjittofi, M., Gleeson, K., Arber, A. (2020). The experience of disgust by healthcare professionals: A Literature review. International Journal of Nursing Studies, https://doi.org/10.1016/j.ijnurstu.2020.103720
Vgl.: Cole, L., Drennan, V. (2019). Living with incontinence: The experience of people with dementia. Dementia, 18(5), 1826-1839
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Christian Müller-Hergl
Dialogzentrum Leben im Alter (DZLA)