Über Vielfältigkeit und Standardisierung

DNQP Pflege Expertenstandard Pflegepraxis

Post vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege

Können Sie sich noch an das „Familienduell“ erinnern? Kern dieser Spielshow aus den Anfangstagen des Privatfernsehens war, dass zu irgendetwas „100 Leute gefragt wurden“ und die Kandidaten die am häufigsten gegebenen Antworten raten mussten. Das bot Platz für allerhand Skurrilitäten und manchmal Fremdscham beim Publikum. Dass ich dieser Tage an diese Sendung denken musste, hat weniger mit dem Gedanken zu tun, es gäbe vielleicht eine Art „Familienduell“ innerhalb der Berufsgruppe der Pflegenden. Nein, das war es nicht. Der Gedanke war eher, wie zurzeit die am häufigsten gegebenen Antworten ausfallen würden, wenn man „100 Leute gefragt“ hätte, was Pflege ist.

Möglicherweise wurde noch nie so viel an verschiedenen Stellen außerhalb von Fachpublikationen „die Pflege“ thematisiert, wie in Zeiten der Corona-Pandemie. Mehrheitlich wurde dabei bislang über, seltener durch und noch vereinzelter mit „der Pflege“ gesprochen oder geschrieben. Es gab bislang unzählige journalistische Beiträgen in regionalen und überregionalen Zeitschriften über coronabedingte Herausforderungen in der Intensivpflege oder Belastungen in der stationären Altenhilfe. Differenzierter wurden Texte erst dann, wenn zum Beispiel darüber berichtet wird, wie Pflege über sich selber schreibt oder, wenn die Autoren auch Pflegende sind.

In sozialen Medien wurde diskutiert, angeprangert, gestöhnt und gelobt. Auf Balkonen wurde geklatscht und in Videokonferenzen diskutiert, wer politisch ausgelobte Prämien zahlt und wer sie wofür erhalten soll. Verständlicherweise haben viele dieser Berichte einen verallgemeinernden Charakter. Nur prägen sie auch das Bild „der Pflege“ und vermutlich sind dabei weder überzeichnete Heldenhaftigkeit noch die immerwährende Betonung hoher Belastungen besonders hilfreich.

Was ist denn aber eigentlich diese „Pflege“? Was ist gemeint? Der Beruf? Die Ausübung des Berufes in der Intensivpflege, in der Altenhilfe, in der Kinderkrankenpflege, in einem stationären Setting, in der Häuslichkeit, in einer geriatrischen Abteilung eines Krankenhauses, in der Wärmestube der Wohnungslosenhilfe? Oder ist es die Sorge für einen nahestehenden Menschen durch Angehörige in häuslichen Pflegearrangements? Diese Frage ist an vielen Stellen bereits unterschiedlich beantwortet worden und wenn man „100 Leute fragen“ würde, wären die Antworten wenig überraschend geprägt von unterschiedlichsten Blickwinkeln, Erfahrungen und Interessen.

Das DNQP nimmt vornehmlich die Perspektive der Praxis- und vor allem der Qualitätsentwicklung ein. Unsere naheliegende, aber dennoch nicht zweifelsfrei einfachste Antwort auf die Frage, was Pflege ist, wäre: Pflege ist vielfältig. Doch wie ist diese Vielfältigkeit mit den Expertenstandards in Einklang zu bringen? Mit unterschiedlicher Intention werden wir mal gebeten, eindeutige Empfehlungen für einzelne Pflegemaßnahmen auszusprechen und ein „immer so“ zu formulieren oder es wird uns vorgeworfen, dass man Pflege doch gar nicht standardisieren könne, ohne jedem einzelnen pflegebedürftigen Menschen seine Individualität zu nehmen. Das „Methodenpapier“ des DNQP verdeutlicht, dass es bei den Expertenstandards keineswegs um Standards geht, die mit Handlungsrichtlinien verwechselt werden könnten. Es geht in ihnen nicht um genaue Beschreibungen technischer Abläufe oder um festgeschriebene Anweisungen wie es z. B. in Hygienestandards der Fall ist. Die Expertenstandards unterstützen im Gegensatz dazu den Entscheidungs- und Handlungsprozess von Pflegefachpersonen, indem sie Zielsetzungen pflegerischen Handelns darstellen und Wege aufzeigen, durch die diese Ziele unter unterschiedlichen Bedingungen auf einem einheitlichen Qualitätsniveau erreichbar sind. Der Pflegeprozess ist dabei die systematische methodische Grundlage des professionellen pflegerischen Handelns, unabhängig davon wo und durch welche Pflegefachpersonen Pflege geleistet wird. Also ebenso von Intensivpflegekräften in einer Universitätsklinik wie von Altenpflegekräften in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz.

Dazu gehört auch, dass ein Entscheidungs- und Handlungsprozess in professionellem Kontext niemals singulär ist. Keine Pflegefachkraft unterstützt eine pflegebedürftige Person „nur“ bei der Körperpflege. Viele Dinge passieren, ob bewusst oder unbewusst, gleichzeitig. Wahrscheinlich, nein hoffentlich, achtet sie gleichzeitig auf den Hautzustand, erfasst mögliche Schmerzsituationen bei Bewegung während sie auch den Mobilitätstatus der pflegebedürftigen Person im Blick hat und führt sogar noch ein Gespräch, egal ob über das Wetter, die Fußballergebnisse, das Lieblingskleid oder das Vermissen der Angehörigen. Vielleicht ist ihr dabei bewusst, dass sie damit auch Expertenstandardinhalte umsetzt, vielleicht nicht. Im besten Fall tut sie es aus einem professionellen Verständnis heraus und ist in der Lage, ihr Wissen über Pflegehandeln und ihre Erfahrungen so einzusetzen, dass ihr Handeln in der jeweiligen Pflegesituation angemessen ist.

Dabei darf allerdings auch nicht vergessen werden, dass dies einem Idealbild gleichkommt und dass das Gelingen guter Pflege von unterschiedlichen Kontexten abhängig ist. Dazu gehören strukturelle Voraussetzungen, die Kompetenz und das Wissen von Pflegenden, ihre Haltung, die organisatorischen Bedingungen unter denen das Pflegehandeln geschieht und die pflegebedürftige Person selbst. Damit gehört zu Vielfältigkeit von Pflege eben auch, dass sie nicht immer gut gelingt. Nicht alle Einrichtungen sind gleichermaßen weit entwickelt. Nicht alle Pflegenden teilen den gleichen qualifikatorischen Hintergrund und nicht immer gelingt der notwendige Aushandlungsprozess zwischen dem professionellen Anspruch der Pflegenden und den individuellen Bedürfnissen der Pflegeempfänger oder ihrer Angehörigen gleich gut. Und nur in den seltensten Fällen sind Pflegende in ihren Entscheidungen über angemessene Pflegeleistungen frei von den Einflüssen und Ansprüchen anderer Berufsgruppen. Ganz zu schweigen von der Frage nach der Finanzierung ihrer Leistungen.

Und wenn Pflege ihren Platz in der Intensivmedizin, in der Altenhilfe, bei kranken Kindern, in einem stationären Setting, in der Häuslichkeit, in einer geriatrischen Abteilung eines Krankenhauses oder in der Wärmestube der Wohnungslosenhilfe hat, dann wird damit auch deutlich, dass es kaum Pflegende gibt, die „alles“ können, sondern ihren Platz in bestimmten Handlungsfeldern professioneller Pflege gefunden und in diesen Feldern besondere Expertise erlangt haben. Was sie allerdings verbindet, sind die weiter vorne im Text angerissenen Grundlagen professionellen Pflegehandelns.

Pflege ist vielfältig, also sollten Verallgemeinerungen vermieden werden. Sicher ist aber, dass es überall adäquate strukturelle Voraussetzungen ebenso braucht, wie angemessene Prozesse und gelingendes individuelles Handeln. Nur auf diesem Weg kann die Qualität entstehen, die pflegebedürftige Menschen egal in welchem Setting erwarten können. Das hätte dann vielleicht Applaus verdient. Wichtiger wäre allerdings eine gebührendere Form der Anerkennung. 

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Kontakt:

Heiko Stehling, MScN

h.stehling(at)hs-osnabrueck.de

www.dnqp.de

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