Und noch einmal zum Schluss: die Fallbesprechung als Kernprozess der Pflege

Pflegen mit Wissen Dialogzentrum Leben im Alter

-Kritisches Glossar-

Einführung

Wissen und Haltung allein verändern die Praxis nicht. Zwischen dem, was Menschen glauben zu tun und dem, was sie tatsächlich tun, besteht bekanntlich eine erhebliche Kluft. Wie also diesen Spalt überbrücken, wie Wissen und Überzeugung in Handlung übersetzen? Ein wichtiger Ansatz besteht darin, Interventionen eng mit und im Team zu entwickeln, auszuprobieren, anzupassen, zu bewerten. Das Team ist nicht Objekt (setzt etwas Fertiges um), sondern Subjekt des Prozesses (passt evidenzbasierte Interventionen und Programme an, biegt sie auf den vorhandenen Kontext zurecht, erfindet sie neu). Dabei werden die Interventionen ausgesucht und weiter entwickelt ausgehend von den realen Fallsituationen, mit den das Team zum jeweiligen Zeitpunkt zu tun hat. In Inhalte von Schulungen werden um die Fälle ‚gewickelt‘, nicht umgekehrt die Fälle am Lerninhalt orientiert: eher Workshop denn Unterricht.

Vorliegende Studie orientiert sich an einer ergotherapeutischen Methode (beschäftigungsbezogene Anpassung: ‚occupational adaption‘), bei der Prozess und Ergebnis zusammengedacht werden. Beschäftigung und Arbeit muss beständig den externen und internen Anforderungen und Ressourcen der Klienten und den Möglichkeiten des Kontextes neu angepasst werden. Dieser Anpassungsprozess (Modus) als solcher ist ebenso Ziel der Ergotherapie wie die daraus resultierende Beschäftigung selbst (res).  Ziel der Behandlung ist nicht nur, dass der Klient sich beschäftigen kann, sondern auch, dass er die Beschäftigung fortlaufend anpassen kann. Auf das Team übertragen heißt das: Es geht nicht nur darum, Klienten gut zu beschäftigen, sondern dass diese vom Team im Kontext konkreter Herausforderungen beständig fortentwickelt und angepasst werden. Ziel ist also, die Anpassungsfähigkeit des Teams zu erhöhen. Also: nicht das Team lernt bestehendes Wissen (und einhergehend damit: spezifische Fertigkeiten und Fähigkeiten), sondern das Wissen wird adaptiv genutzt, um reale Fallsituationen weiterzuentwickeln.

Ziele der Studie:

Untersucht wird, wie sich die Ergebnisse eines Programms der ‚beschäftigungsbezogenen Adaption‘ unterscheiden von Schulungen, die auf das Training bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten zielen.

Methode:

Beschrieben werden Methoden, um die Lösungskompetenzen zweier Mitarbeitergruppen, die unterschiedlichen Schulungsprozessen unterzogen wurden, zu vergleichen. 28 Teilnehmende (Pflege, Therapie, Hauswirtschaft, Freiwillige) wurden auf 2 Lerngruppen verteilt. Die Teilnehmer nahmen an 9 wöchentlichen Sitzungen teil.

Das Programm:

In den Sitzungen wurden Fallsituationen genau analysiert und zusammen mit dem Team mögliche Lösungen und Ansätze entwickelt. Nach der Fallanalyse wurde versucht, Verstehenshypothesen zu entwickeln. Die Lehrenden stellen eine Reihe von möglichen Interventionen vor, welche zu dem Fall zu passen schienen. Verschiedene Möglichkeiten wurden zusammen mit dem Team geplant, neu erfunden, ausprobiert und gemeinsam nach relativ kurzen Abständen von einer Woche ausgewertet. Es ging also darum, in verdichteter Weise Möglichkeiten, zu entwickeln, sofort auszuprobieren, zu bewerten, zu modifizieren und es erneut zu versuchen, also einen ‚dichten‘ Lernprozess zu initiieren. – Die Kontrollgruppe erhielt 9 wöchentliche 60-minütige Schulungen mit einer anschließenden Fragerunde. 

Resultate:

Im Vergleich schnitt die Interventionsgruppe deutlich besser ab in Bezug auf Teamentwicklung und Lösungskompetenz. Es gelang, Mahlzeiten und Speisenauswahl besser den Klienten anzupassen. Klienten, die sich mit den regulären Gruppen angeboten schwertaten, wurden erst einzeln zu Spaziergängen erfolgreich animiert, aus denen sich mit der Zeit eine regelmäßige Wandergruppe entwickelte. In der überwiegenden Anzahl der Fälle wurden praktikable Lösungen gefunden, welche Befinden und Verhalten der Personen deutlich verbesserten. Teilnehmende betonten, die enge Fallorientierung habe es wesentlich erleichtert, Wissen in konkrete Praxis zu übersetzen. Man rede über reale Personen in real erlebten Situationen und nicht über fremde, hypothetische Fallsituationen oder theoretisches Wissen. Und weiter: das gemeinsame Nachdenken, Entwickeln, Anpassen (‚das Hin und Her‘) habe dazu geführt, einander näher zu kommen, ähnlich zu denken, einander zu ergänzen, besser miteinander zu kommunizieren. Man habe sich wechselseitig angespornt und einen neuen ‚team spirit‘ erfahren. Dies komme einer Steigerung der Lösungs- und Anpassungsfähigkeit des gesamten Teams als Einheit gleich.

Im Vergleich dazu berichteten Teilnehmende aus der Kontrollgruppe, dass sich das Wissen nur teilweise anwenden lies und sich aus der Schulung keine gemeinsame Begeisterung zur Lösung von Fallsituationen oder eine verbesserte Kommunikation und Interaktion im Team ergab.

Allerdings zeigt die Studie auch Inkongruenzen auf: nicht immer war die Interventionsgruppe der Kontrollgruppe in der Lösungskompetenz überlegen und in Einzelfällen konnten Teilnehmende in der Kontrollgruppe das erlernte Wissen mit Erfolg gut umsetzen. Nicht immer ist der Begleiter an der Seite (guide on the side) dem Zauberer auf der Bühne (sage on the stage) überlegen. Den Erzählungen in Geschichten des Experten zu lauschen kann eine sehr positive Lernerfahrung darstellen.

Diskussion:

Die Lösungskompetenz des Teams für Klienten bezogene Herausforderungen hängt eng mit der Qualität der Kommunikations- und Interaktionsdynamik im Team zusammen. In der fallbezogenen Arbeit, bei denen der Fall und nicht das zu lernende Curriculum im Vordergrund steht, werden beide Ziele zugleich erreicht: bessere Lösungen für die Klienten und bessere Teamdynamik. Lösungen für die Klienten (res) und Teamprozess (Modus) sind eng verbunden. Bildung wird demnach als dynamischer sozialer Teamprozess verstanden, der sich entwickelt in, mit und durch die Arbeit an konkreten Fallkonstellationen. Dabei erweist sich das Wissen, der Wissensaustausch, das gemeinsame ‚Hin- und -Her‘ als schöpferische Quelle, die weit über das Wissen und die Lösungskompetenz des Einzelnen hinausgeht.

Quelle:

McKay, H., Pickens, N. et al. (2021). Comparing occupational adaption-based and traditional training programs for dementia cate teams: An embedded mixed-methods study. The Gerontologist, 61(4), 582-594

https://doi.org/10.1093/geront/gnaa160


Zum Thema empfehlen wir Ihnen folgende Beiträge:

„Fallbesprechung: Verstehenshypothese und Moderatorenrolle“: https://www.dzla.de/fallbesprechung-verstehenshypothese-und-moderatorenrolle/

„Haustheater: Team als Therapeutikum“: https://www.dzla.de/haustheater-team/


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Christian Müller-Hergl

Dialogzentrum Leben im Alter (DZLA)


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