Was heißt eigentlich ‚Kontext‘?

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– Kritisches Glossar –

Hintergrund

Evidenzbasierte Praktiken werden – nach einschlägiger Literatur – zu 80% gar nicht, nur teilweise oder nicht nachhaltig genug umgesetzt. In der Regel wird dafür der Kontext verantwortlich gemacht, z.B. die für die Organisation typische Kultur, die Leitung und Führung sowie die mangelnde Auswertung bzw. Evaluation. Was im Einzelnen dabei unter ‚Kontext‘ verstanden wird, ist aber von Studie zu Studie sehr verschieden. Nicht immer ist deutlich, ob dasselbe gemeint ist oder ob ‚Kontext‘ je nachdem sehr Verschiedenes bedeutet.

Andere Begriffe für Kontext lauten: Arbeitsumgebung, Praxisumgebung, das Setting, die Situation, der Hintergrund.

Eine einheitliche Definition liegt nicht vor. Vorliegende Konzeptanalyse definiert in Form einer hierarchischen Definition die Hauptbereiche (‚domains‘) und Eigenschaften (‚attributes‘) und Kennzeichen (‚features‘: einzelne Elemente der Eigenschaften) des Konzepts ‚Kontext‘ im Gesundheitswesen. Definiert wird, was der Begriff umfasst (a), welche Eigenschaften und Kennzeichen zum Begriff gehören(b) und welche Eigenschaften und Kennzeichen bei der Umsetzung von evidenzbasierten Interventionen besonders zu berücksichtigen sind (c). Beschrieben wird die Literatursuche, die Auswahl und Bewertung sowie die Analyse der Literaturen.

Das Konzept ‚Kontext‘:

Insgesamt konnten 201 spezifische Kennzeichen identifiziert werden, von denen 89 in mindestens zwei Studien Erwähnung fanden. Diese 89 Kennzeichen wurden 21 Eigenschaften zugeordnet und letztere in 6 breit angelegte Hauptkategorien sortiert. (siehe angehängte Graphik)

Hauptkategorie 1: Kontextnutzer (Eigenschaften: Patient, Erwartungen)

Hierunter wird die Patientenpopulation (Alter, Geschlecht, Erkrankung und Schwere, Bildung, etc.) sowie die Erwartungen und Wünsche der Patienten verstanden.

Hauptkategorie 2: Anbieter und Gesundheitsarbeiter (Eigenschaften: Personen und Anbieter)

Dies umfasst Kennzeichen wie ausreichende Anzahl von Mitarbeitenden, um Interventionen umzusetzen, genügend Zeit und Gelegenheit, die auch zu tun, die Zusammensetzung der Mitarbeitenden (z.B. Bildung, Wissen, spezielle Kompetenzen) sowie die (Selbst) Wirksamkeit und das Selbstvertrauen der Mitarbeitenden.

Hauptkategorie 3: Interne Arrangements (Eigenschaften: Kultur, Regelsysteme (‚governance‘), Führung, (Unter)Einheiten, Ökonomie, Management)

Unter Kultur werden in der Regel die offiziellen und inoffiziellen Normen und Erwartungen, unter Regelsysteme die gesetzlichen und beruflichen Standards, Leitlinien, Auflagen, unter Führung Merkmale wie Konsistenz (Ziele deutlich machen und konsequent verfolgen), Transparenz, die Förderung und Entwicklung von Kompetenzen (Personalentwicklung) sowie die Offenheit für Veränderungen verstanden.

Hauptkategorie 4: Interne Strukturen und Netzwerke (Eigenschaften: physisch, sozial, Kommunikation und Beziehungen, Unterstützung)

Hier werden die Ressourcen und die Ausstattungsmerkmale genannt sowie die organisationalen Prozesse und Strukturen beschrieben. Wichtig hierbei auch das Ausmaß, in dem Mitarbeitende mehr oder weniger gezwungen sehen, sich den in der Gruppe vorherrschenden Ideen, Meinungen, Urteilen und Praktiken anzuschließen bzw. zu fügen. (‚groupthink‘)

Hauptkategorie 5: Veränderungsbereitschaft (Eigenschaften: Arbeitsklima, Bereitschaft, andere organisationale Veränderungsprozesse)

Unter Arbeitsklima wird zumeist die emotionale Einstellung und Haltung gegenüber dem Betrieb beschrieben. Besonders wichtig dabei das Klima im unmittelbaren Arbeitskontext, dem Teamklima: hierunter werden der Zusammenhalt sowie die Bereitschaft, sich untereinander zu helfen und zu unterstützen, verstanden. Weiterhin wichtig wird die Vereinbarkeit bewertet: ist die neue Praxis mit den Werten, Normen, mit der vorhandenen Umgebung und den Ressourcen, aber auch den verinnerlichten Prozeduren und Abläufen vereinbar? Damit hängt auch zusammen, ob die bisherige Praxis als grenzwertig und veränderungsbedürftig eingeschätzt wird: ist dies der Fall, dann sind die Chancen für die Einführung einer neuen Praxis hoch.

Hauptkategorie 6: der breitere Kontext des (Gesundheits)Systems (Eigenschaften: Evaluation, Politik und Macht, Gesundheitsmarkt, Komplexität, Zusammenarbeit)

Für die Implementierung neuer Praktiken sind entscheidend, dass gezielte Rückmeldungen an Einzelne, an Teams und Teilsysteme über Erfolg und Misserfolg anhand von benannten Indikatoren gegeben werden. Weitere Bedingungen betreffen die Konkurrenz (besonders dann, wenn die neue Praxis von wichtigen Konkurrenten betrieben wird), die Komplexität des Bereiches, in dem die neue Praxis eingeführt werden soll (z.B. viele zu berücksichtigende Schnittstellen) sowie die Komplexität der Einführung selbst (z.B. wie lange dies dauern wird, welche Schulungen erforderlich sind, welche Abläufe es anzupassen gilt).

Fazit:

Die Autoren unterstreichen abschließend die Bedeutsamkeit dafür, ein gemeinsames Verständnis von Kontext zu entwickeln. Der Rahmen sei wichtig, um gemeinsame Assessmentinstrumente zu entwickeln, damit Kontextfaktoren eingeschätzt und beforscht werden können. Letzteres trägt dazu bei, die Wissensvermittlung anzupassen, die Wirkungen derselben besser zu beurteilen und die mit Veränderungen beauftragten Personen (‚change agents‘) besser vorzubereiten und anzuleiten.

Quelle:

Squires, J., Graham, I. et al. (2019). Understanding context: A concept analysis. Journal of Advanced Nursing, 75, 3448-3470, DOI: 10.1111/jan.14165


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Christian Müller-Hergl

Dialogzentrum Leben im Alter (DZLA)


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